Warum hat Nietzsche Philosophen wie Platon und Kant kritisiert?

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Kritik ist in einer weiten Bedeutung urteilendes Unterscheiden. Dies kann auch Zustimmung, Lob, Anerkennung aufgrund eigener Überprüfung enthalten.

In einer engen Bedeutung ist Kritik auf Ablehnung, Angriff, Tadel, Einwände und Ähnliches beschränkt.

Bei einem Philosophen ist eine Stellungnahme zu anderen Philosophen, ihren Standpunkten und ihren Aussagen naheliegend. Friedrich Nietzsche hat Platon und Immanuel Kant nicht ausschließlich angegriffen und bemängelt, aber mit der Herausbildung eines eigenen Standpunktes, der sich gegen jede Metaphysik mit einer Auszeichnung eines objektiv bzw. intersubjektiv und zeitlosen Wahren, Guten, Idealen und wirklich Seiendem richtet, überwiegen Gegensätze in grundlegenden Auffassungen. 

Platon und Kant haben Auffassungen vertreten, nach denen es etwas gibt, wie es an sich ist, und etwas, das zeitlos allgemein gültig ist als wahr und als gut (z. B. das Gerechte selbst/das Gerechte an sich/die Idee der Gerechtigkeit und eine Idee des Guten/das Gute an sich bzw. das Gebot des kategorischen Imperativ).

Nietzsche bezweifelt in seiner Erkenntnistheorie eine allgemeingültige Wahrheit, die eine objektive Entsprechung zu einer tatsächlichen Welt sei. Was als wahr behauptet wird, ist nach seiner Auffassung nur eine Interpretation (Deutung). Zugespitzt versteht er „Wahrheit“ als Vorstellung/Fiktion/Illusion. Es gibt nach Nietzsches Überzeugung keine umfassende Einsicht in das Wesen der Welt, den Grund des Daseins oder die Zuverlässigkeit unseres Wissens. Alle weitreichenden Begriffe seien unser eigener Entwurf. Nietzsche bestreitet, unseren „Wahrheiten“ entspreche eine unabhängig davon bestehende Wirklichkeit. Nietzsche erklärt alles für eine Sache der Perspektive, nur von daher habe es Sinn und Bedeutung (Perspektivismus).

In seiner Ethik/Moralphilosophie bestreitet Nietzsche zeitlose und allgemeingültige Werte. Moral ist seiner Meinung nach in etwas Außermoralischem begründet. Jede Moral ist nach seiner Auffassung nach von Machtverhältnissen abhängig und Wertungen sind nicht mehr als unterschiedliche ästhetisch gleichberechtigte Wertschätzungen. Nietzsche meint, das Gute sei für den Menschen ursprünglich das gewesen, was seine Lebensweise gefördert und sein Gefühl der Macht und Lust erhöht habe. Eine Sklavenmoral, geprägt von Ressentiment der Ohnmächtigen und Schwachen, habe dies umgekehrt und ein Begriffspaar „gut“ und „böse“ geschaffen. Nietzsche hält dies für eine gegen das Leben gerichtete Entwicklung, will sie in einer Umwertung aller Werte rückgängig machen und einen Standpunkt jenseits von „gut“ und „Böse“ einnehmen. Bei der Setzung neuer Werte soll Orientierung sein, was dem Leben dient und es steigert und für die Hervorbringung starker und souveräner Individuen günstig ist. Im Leben entziehe sich nichts dem Willen zur Macht.

Ein Vorwurf ist, Gedankenbäude unter Verführung der Moral gebaut zu haben (Friedrich Nietzsche, Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile Neue Ausgabemit einer einführenden Vorrede (1887) Vorrede Nr. 3), also Moralismus als Grundlage zu haben.

Platon

Friedrich Nietzsche deutet Platons Philosophie als idealistische Metaphysik und Moralismus. Platonismus steht nach seiner Auffassung in fester Verbindung zum Christentum und führt fort von Diesseitigkeit, Leiblichkeit und Sinneserfahrung.

Ein Angriffspunkt ist, mit der Ideenlehre die Erscheinungswelt zu Unrecht abgewertet zu haben und eine Flucht in eine Hinterwelt der Ideen angetreten zu haben, die Illusion sei.

Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886). Vorrede enthält den Vorwurf, daß „der schlimmste, langwierigste und gefährlichste aller Irrthümer bisher ein Dogmatiker-Irrthum gewesen ist, nämlich Plato’s Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich.“

„Aber der Kampf gegen Plato, oder, um es verständlicher und für’s „Volk“ zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von Jahrtausenden — denn Christenthum ist Platonismus für’s „Volk“ — hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da war: mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen.“

Friedrich Nietzsche an Franz Oberbeck, 9. Januar 1888:  

„Die Fälschung alles Thatsächlichen durch Moral steht da in vollster Pracht; erbärmliche Psychologie; der Philosoph auf den ‚Landpfarrer' reduzirt. — Und an alledem ist Plato schuld! er bleibt das größte Malheur Europas!"

Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente Herbst 1887 10 [112] weist auf eine Tendenz hin, Gegner bis zur Karikatur herunterzubringen. Unter Immoralisten werde der Moralist zur Karikatur reduziert. „Plato zum Beispiel wird bei mir zur Carikatur.“

Albrecht  22.06.2015, 06:48

Kant

Ein Nietzsche an Kant nicht passender Gedanke ist der vom Ding an sich selbst, weil damit, wenn auch nicht als sicher erkennbar, eine Überzeugung von einer objektiven Wirklichkeit verbunden ist.

Bei der Ethik wird von Nietzsche das Eintreten Kants für allgemeine Prinzipien, die universal für jedes Vernunftwesen gelten, abgelehnt, ebenso die Auffassung, wahren moralischen Wert habe nur eine Handlung aus Pflicht, während Neigung (z. B. Lust) keinen Platz als Bestimmungsgrund des Willens habe, der moralisch gut ist.

Kant begründet seine Ethik aus der Vernunft, nicht mit Leben und Willen zur Macht.

Ein besonders heftiger Angriff beurteilt Kants Denken als Verfallserscheinung:

Friedrich Nietzsche, Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum. 11.  

„Ein Wort noch gegen Kant als Moralist. Eine Tugend muss unsre Erfindung sein, unsre persönlichste Nothwehr und Nothdurft: in jedem andren Sinne ist sie bloss eine Gefahr. Was nicht unser Leben bedingt, schadet ihm: eine Tugend bloss aus einem Respekts-Gefühle vor dem Begriff „Tugend“, wie Kant es wollte, ist schädlich. Die „Tugend“, die „Pflicht“, das „Gute an sich“, das Gute mit dem Charakter der Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit — Hirngespinnste, in denen sich der Niedergang, die letzte Entkräftung des Lebens, das Königsberger Chinesenthum ausdrückt. Das Umgekehrte wird von den tiefsten Erhaltungs- und Wachsthums-Gesetzen geboten: dass Jeder sich seine Tugend, seinen kategorischen Imperativ erfinde. Ein Volk geht zu Grunde, wenn es seine Pflicht mit dem Pflichtbegriff überhaupt verwechselt. Nichts ruinirt tiefer, innerlicher als jede „unpersönliche“ Pflicht, jede Opferung vor dem Moloch der Abstraktion. — Dass man den kategorischen Imperativ Kant’s nicht als lebensgefährlich empfunden hat!… Der Theologen-Instinkt allein nahm ihn in Schutz! — Eine Handlung, zu der der Instinkt des Lebens zwingt, hat in der Lust ihren Beweis, eine rechte Handlung zu sein: und jener Nihilist mit christlich-dogmatischen Eingeweiden verstand die Lust als Einwand… Was zerstört schneller als ohne innere Nothwendigkeit, ohne eine tief persönliche Wahl, ohne Lust arbeiten, denken, fühlen? als Automat der „Pflicht“? Es ist geradezu das Recept zur décadence, selbst zum Idiotismus… Kant wurde Idiot. — Und das war der Zeitgenosse Goethes! Dies Verhängniss von Spinne galt als der deutsche Philosoph, — gilt es noch!… Ich hüte mich zu sagen, was ich von den Deutschen denke… Hat Kant nicht in der französischen Revolution den Übergang aus der unorganischen Form des Staats in die organische gesehn? Hat er sich nicht gefragt, ob es eine Begebenheit giebt, die gar nicht anders erklärt werden könne als durch eine moralische Anlage der Menschheit, so dass mit ihr, Ein-für-alle Mal, die „Tendenz der Menschheit zum Guten“ bewiesen sei? Antwort Kant’s: „das ist die Revolution.“ Der fehlgreifende Instinkt in Allem und Jedem, die Widernatur als Instinkt, die deutsche décadence als Philosophie — das ist Kant! —“

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froggle  20.03.2017, 00:42

vielen dank

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Noch eine Ergänzung: Platon und Kant befürworten letztlich eine rigorose Moral im Sinne des „guten Menschen“, und sie leiten diese Pflicht von einem höheren Wesen ab (Platon: „Unrecht tun ist besser als Unrecht leiden!“ „Höchstes Ziel ist die Läuterung der Seele durch Unterdrückung der Sinnlichkeit und Erhebung zum Guten“; letztes Ziel die „Verähnlichung mit Gott“). Kant leitet die Moral außerdem aus der Vernunft ab, welche den Menschen zum moralischen Handeln verpflichtet (z.B.: Keiner kann vernünftigerweise wollen, dass egoistisches Verhalten zum Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung erhoben wird; andernfalls müsste er wollen, dass man auch ihm selbst gegenüber egoistisch handeln darf; eine solche Einstellung wäre aber unvernünftig). Außerdem sagte Kant, der allgemein geübte Egoismus würde die Grundlagen des Zusammenlebens in einem Staate zerstören. –
Nietzsche nun ist nicht grundsätzlich gegen eine Moral. Selbstverständlich befürwortet er eine staatlich verfügte Moral im Sinne der „Institutionenethik“ Hegels. Mord, Raub, Diebstahl, Betrug etc. müssen natürlich geahndet werden. Kein Staat der Welt wird ein derart extrem unmoralisches Handeln zulassen. Wogegen Nietzsche „wettert“, ist die christliche Moral, also die Verpflichtung des Menschen, „gut“ zu sein. Ich nenne diese Moral einmal die „Bergpredigt-Moral“: Sei sanftmütig, setze dich leidenschaftlich für Gerechtigkeit ein, sei ein barmherziger Mensch, habe ein reines Herz, sei friedfertig, lasse dich (notfalls) um der Gerechtigkeit willen verfolgen, zürne nicht deinem Bruder, sei nicht rachsüchtig, verspotte andere nicht, sei gegenüber deinem Widersacher ergeben (willfährig), begehre nicht (als Verheirateter) ein anderes Weib oder das Weib eines anderen, liebt eure Feinde u.a.m. Im „Antichrist“ führt Nietzsche gegen eine derartige – wie er sie nennt: schwächliche Moral ziemlich starke Argumente ins Feld (Argumente, die man m.E. nicht ohne weiteres beiseiteschieben kann): „...ein junger Fürst an der Spitze seiner Regimenter, prachtvoll als Ausdruck der Selbstsucht und Selbstüberhebung seines Volkes – aber ohne jede Scham, sich als Christen bekennend! Wen meint denn das Christentum? Was heißt es „Welt“? Dass man Soldat, dass man Richter, dass man Patriot ist; dass man sich wehrt, dass man auf seine Ehre hält, dass man seinen Vorteil will, dass man stolz ist...; jede Praktik jedes Augenblicks, jeder Instinkt, jede zur Tat werdende Wertschätzung ist heute antichristlich....!“ Auch gegen das „Laede neminem“ (verletze niemanden) des Christentums wendet sich Nietzsche leidenschaftlich: Ist nicht mit jedem Aufstieg eines Menschen in eine begehrte Position, sei es als Richter, Preisträger, Chefdirigent, Oberstudiendirektor u.a.m immer auch die Verletzung eines anderen, Nicht-Erwählten, Zurückgestuften, Sich-vergeblich- Bewerbenden verbunden? Diese berechtigten Fragen an das Christentum hat meines Wissens Nietzsche als erster gestellt und für sich eine radikale Antwort gegeben: die totale Ablehnung der christlichen Einstellung!