Gegenwart in der Relativitätstheorie?

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Hallo rincewind483,

im Unterschied zum Wort "jetzt" hat das Wort "Gegenwart" auch einen räumlichen Aspekt. Jemand, der anwesend ist, ist "gegenwärtig" bzw. "präsent", wer anwesend ist, ist "absent". Physiker, die sich mit der Speziellen Relativitätstheorie (SRT) auseinandersetzen, sprechen bei hypothetischen jetzt in etlichen Lichtjahren Entfernung Ereignissen nicht von der Gegenwart, sondern vom Anderswo (engl. elsewhere), wobei sich diese Bezeichnung nicht auf das Jetzt beschränkt, sondern alle vom Hier und Jetzt raumartig getrennten (s u.) Ereignisse meint.

Gibt es überhaupt physikalische Konzepte, die versuchen, die Existenz der Gegenwart zu erklären?

Es gibt sogar den Präsentismus, die Behauptung, nur das Jetzt sei real. Das ist aber eher ein naturphilosophisches als ein physikalisches Konzept, das mit der SRT nur schlecht vereinbar ist.

Und insbesondere: wie passt das Konzept von Gegenwart in ein vierdimensionales Raumzeitgefüge, in dem selbst Gleichzeitigkeit ein relativer Begriff ist?

Die Relativität der Gleichzeitigkeit räumlich getrennter Ereignisse in der SRT korrespondiert mit der Relativität der Gleichortigkeit zeitlich aufeinanderfolgender Ereignisse, mit der wir aufgrund von GALILEIs Relativitätsprinzip (RP) schon in der NEWTONschen Mechanik (NM) konfrontiert sind.

Wenn ich im Bordbistro eines mit 50 m⁄s (180 km⁄h) fahrenden Zuges in 6 min einen Cappuccino trinke, findet natürlich mein letzter Schluck aus der Tasse 18 km entlang der Strecke vom ersten Schluck entfernt statt – in einem Ruhesystem der Erde.

Ich kann aber auch den Erdboden samt Strecke als riesiges Laufband interpretieren, auf dem der Zug vorwärts rollt, um an Ort und Stelle zu bleiben. Besonders plausibel ist es, wenn der Zug westwärts fährt, da sich die Erde ja ostwärts dreht (um in unseren Breiten an Ort und Stelle zu bleiben, müsste er allerdings ca. 1000 km⁄h fahren, das schaffen nur Flugzeuge). Jedenfalls trinke ich im Ruhesystem des Zuges meinen letzten Schluck am selben Ort wie den ersten.

Beide Interpretation sind physikalisch gleichwertig, die grundlegenden Beziehungen zwischen physikalischen Größen (nichts anderes sind Naturgesetze) hängen nicht vom Bezugssystem ab.

Das Konzept der Raumzeit hätte daher eigentlich schon vor der SRT entwickelt werden sollen, denn offenbar gibt es den Raum als solchen nicht. Die Umrechnung zwischen zwei Koordinatensystemen heißt GALILEI- Transformation und ist geometrisch betrachtet eine raumzeitliche Scherung.

Zeit- und raumartig getrennte Ereignisse

Das Konzept der Gleichortigkeit muss verallgemeinert werden durch die Eigenschaft eines Paares von Ereignissen, zeitartig getrennt zu sein. Das bedeutet, es gibt ein Koordinatensystem, in dem sie gleichortig sind; ihr zeitlicher Abstand in diesem Koordinatensystem ist die Eigenzeit, die durch eine lokale Uhr direkt gemessene Zeitspanne Δτ.

Wir wollen sie begrifflich unterscheiden von der U- Koordinatenzeit, der von einer Bezugsuhr U aus ermittelten Zeitspanne Δt zwischen denselben Ereignissen, auch wenn das in der NM dasselbe ist.

Der räumliche "Abstand" zwischen zwei Ereignissen hängt schon in der NM normalerweise davon ab, welches Koordinatensystem wir als Bezugssystem nutzen. Es ist daher eigentlich nicht mehr als eine Kombination von Koordinatendifferenzen.

Gibt es ein Koordinatensystem, in dem die Ereignisse an verschiedenen Orten, aber gleichzeitig stattfinden, wollen wir sie raumartig getrennt nennen. Dann haben sie auch einen festen Abstand, den wir den Gleichzeitigkeitsabstand Δς nennen wollen.

Die Eigenschaft, raumartig getrennt zu sein, ist natürlich eine Verallgemeinerung des Begriffes der Gleichzeitigkeit, bedeutet in der NM aber dasselbe.

GALILEI meets MAXWELL

Das ändert sich mit der Anwendung des RP auf im 19. Jahrhundert neu entdeckte Naturgesetze, nämlich MAXWELLs Grundgleichungen der Elektrodynamik, aus der sich direkt und ohne Bezug auf ein spezielles Medium die elektromagnetische Wellengleichung herleiten lässt. Daraus ergibt sich auch die Relativität der Gleichzeitigkeit und übrigens auch MINKOWSKIs Abstandsquadrat

(1) Δς² = Δx² + Δy² + Δz² − c²Δt²

für raumartig getrennte und

(2) Δτ² = Δt² − (Δx² + Δy² + Δz²)⁄c²

für zeitartig getrennte Ereignisse. Außerdem gibt es dadurch eine dritte Kategorie, die lichtartig getrennten Ereignisse wie etwa ein Ereignis und dessen Beobachtung durch jemanden, als Grenzfall zwischen beiden.

"Kosmisches" Koordinatensystem

Wenn Du mit hoher Geschwindigkeit relativ zum Sonnensystem reisen würdest und würdest dabei physikalische Experimente machen, würde Dir nichts Besonderes auffallen.

Allerdings würde Dir bei Beobachtung Deiner Umgebung auffallen, dass sich die meisten Objekte um Dich herum in eine bestimmte Richtung bewegen, und wenn Du den Kosmischen Mikrowellenhintergrund (CMB für engl. Cosmic Microwave Background) untersuchen solltest, würde der in der Richtung, aus der die Objekte alle kommen, signifikant "wärmer" als die durchschnittlichen 2,7K erscheinen und in der entgegengesetzten Richtung dafür signifikant kälter, abgesehen von den irregulär verteilten Schwankungen.

Es gibt also schon so etwas wie Bewegung relativ zum Kosmos selbst, als solchem. Selbst von der Erde aus zeigt sich im CMB o.g. Muster, was auf eine Geschwindigkeit des Sonnensystems relativ zum Kosmos von knapp 370 km⁄s ≈ 1,2×10⁻³c schließen lässt.

Ein Beobachter, der sich relativ zum Sonnensystem mit diesem Tempo in entgegengesetzte Richtung bewegt, würde daher wohl das Universum am symmetrischsten wahrnehmen. Das, was in seinem Ruhesystem gleichzeitig ist kannst Du ggf. schlechthin als universelles "Jetzt" bezeichnen.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – + Auseinandersetzung mit Gegnern der RT
rincewind483 
Fragesteller
 15.05.2023, 14:37

ok da steckt eine menge nützliches drin. das werde ich mir nochmal genauer zu gemüte führen. das hilfreichste-antwort-prädikat bekommst du jetzt schon mal. vielen dank.

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Der gegenwärtigste Punkt ist jeweils das eigene ich, jenes ominöse physikalisch und neurologisch nach wie vor unerklärliche Etwas in einem.

Vielleicht ist sogar das eigene Gehirn nur etwas "drumherum", unmöglich, da derzeit irgendwas konkreter zu sagen. Auch wenn ich nicht dazu neige deswegen mystisch, gläubig, ... zu werden, Fakt ist, wir wissen nicht was unsere "ichs" wirklich sind, wie sie zu Stande kommen.

Eines kann man aber ganz sicher (meine ich) nicht abstreiten: Jenes jeweils eigene ich ist für Jeden der gegenwärtigst-mögliche "Punkt". So gesehen, alles relativ... 😉

rincewind483 
Fragesteller
 14.05.2023, 14:14

also was ich da herauslese: jedes beliebige ich hat für sich genommen zu jedem beliebigen zeitpunkt ein festes bezugssystem und somit auch eine klare und eindeutige gegenwart. sobald mehrere beobachter im spiel sind, ist gegenwart kein eindeutiger begriff mehr oder ergibt vll sogar gar keinen sinn mehr (die analyse zum "was ist das ich eigentlich?" lasse ich mal außen vor, weil die mir zum physikalischen verständnis nicht hilft). diese interpretation halte ich für durchaus plausibel. aber ist das wirklich aus der relativitätstheorie ableitbar, oder ist das nur unsere eigene spinnerte interpretation?

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CatsEyes  14.05.2023, 14:31
@rincewind483

Einstein soll gesagt haben "Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart sind eine Illusion, wenn auch eine hartnäckige" oder so ähnlich. Und die AR "sagt" auch z. B., dass zwei Ereignisse für einen Beobachter gleichzeitig stattfinden mögen, für einen anderen aber eben nicht. Das "verbietet" doch geradezu eine objektive Gegenwartsdefinition.

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SlowPhil  14.05.2023, 15:38
@rincewind483
...jedes beliebige ich hat für sich genommen zu jedem beliebigen zeitpunkt ein festes bezugssystem und somit auch eine klare und eindeutige gegenwart.

Nein. Jedes Ich hat zu jedem Zeitpunkt auf seiner eigenen Uhr ein festes Ruhesystem, also ein Koordinatensystem, in dem der eigene Körper sich gerade nicht fortbewegt. Eigentlich hat es sogar unendlich viele, denn wenn man den Ursprung verschiebt oder die Koordinatenachsen räumlich dreht, bleibt etwas, das vorher schon als ruhend beschrieben wurde, weiterhin ruhend.

Das Bezugssystem, in dem ich rechne, kann ich frei wählen, und an der Erdoberfläche bietet sich ein mit dieser verbundenes Koordinatensystem wie das Gradnetz der Erde als Bezugssystem an, obwohl es nicht einmal ein Inertialsystem ist (es rotiert zum Beispiel mit der Erde mit).

Wenn ich mich relativ zum Erdboden bewege, benutze ich normalerweise trotzdem weiter den Erdboden als Bezugskörper, nicht mich selbst. Ich sage im Zug nach Köln nicht "der Zug, in dem ich sitze, hat abgebremst und lässt Köln auf sich zukommen".

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rincewind483 
Fragesteller
 15.05.2023, 14:24
@SlowPhil

ich verstehe. das ruhesystem ist also das bezugssystem, in dem mein eigener körper sich in bewegungslosigkeit befindet, und für die von mir beschriebene situation der passendere begriff. es geht um die ruhesysteme zweier beobachter. danke für den hinweis.

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SlowPhil  15.05.2023, 15:30
@rincewind483
das ruhesystem ist also das bezugssystem,...

Das Koordinatensystem. Mein momentanes Bezugssystem ist dasjenige Koordinatensystem, das ich gerade benutze.

...in dem mein eigener körper sich in bewegungslosigkeit befindet,...

Wobei ich sehr aktiv sein kann, denk an ein Laufband. Ob ich mich aktiv bewege, hängt natürlich nicht davon ab, welches Koordinatensystem wir als Bezugssystem benutzen, aber in meinem Ruhesystem würde ich vom Untergrund mitgezogen, sobald ich aufhören würde, mich aktiv in entgegengesetzte Richtung zu bewegen.

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CatsEyes  15.05.2023, 15:32
@SlowPhil

So gut und richtig das ist, was Du schreibst, den Gegenwartsbegriff erklärt es aber nicht, geschriebenes gilt unabhängig vom Gegenwartsbegriff.

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CatsEyes  15.05.2023, 15:33
@SlowPhil

<<< Mein momentanes Bezugssystem ist dasjenige Koordinatensystem, das ich gerade benutze. >>> ... wobei sich dieses Bezugssystem aber "verbiegen" usw. kann, je nach z. B. Gravitaionseinflüssen.

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Hat dann jedes Bezugssystem seine eigene Gegenwart

kann man so sagen.

Darum ist Karriere so eine Sackgasse - selbst wenn einer die Welt beherrscht, interessiert es schon im NGC 224 niemanden, wer hier vor zweieinhalb Millionen Jahren das Sagen hatte. Die endliche Lichtgeschwindigkeit macht einsam.

Roland22  14.05.2023, 10:23

"Die endliche Lichtgeschwindigkeit macht einsam" ... So hab' ich das nocht nicht gesehen ...😉

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rincewind483 
Fragesteller
 14.05.2023, 14:20

der ganze untere teil hilft mir nicht zum physikalischen verständnis hinsichtlich gegenwart in der RT. ich nehme also das "kann man so sagen" zu meiner interpretation mit.

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Roland22  14.05.2023, 15:32
@rincewind483

Ok, viel helfen kann ich nicht. Ich werfe nur ein: was wäre, wenn die Lichtgeschwindigkeit unendlich wäre ? Dieser Gedanke flog mich mal an. Alles geschähe gleichzeitig, ich könnte nicht unterscheiden, passiert es hier bei mir oder am Ende des Universums, ich könnte vrmtl. keine Entfernung messen.

Wenn der Gedanke heute kommt, ducke ich mich weg ...

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rincewind483 
Fragesteller
 15.05.2023, 14:30
@Roland22

der gedanke kam mir beim hören von "jenseits der zeit" von liu chixin, weil genau diese möglichkeit dort zur sprache kommt. tatsächlich dürfte sich aber gar nicht so viel ändern. die anderen sterne sind weiterhin zu weit weg, als dass sie für uns allzu große relevanz hätten. was auf der erde passiert, passiert sowieso quasi gleichzeitig in den maßstäben der lichtgeschwindigkeit. vermutlich würden wir kaum einen unterschied bemerken. der blick in die ferne wäre natürlich kein blick in die vergangenheit mehr, sondern wir würden immer die aktuellen sterne sehen.

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Roland22  15.05.2023, 15:00
@rincewind483

Mein Vorstellungsvermögen reicht nicht aus. Ich scheitere u.a. an der Laufzeitmessung für Entfernungsmessungen, die wäre nicht möglich.

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rincewind483 
Fragesteller
 15.05.2023, 15:32
@Roland22

stimmt, mit lichtlaufzeiten wären entfernungsmessungen nicht mehr möglich 🙂 dafür gibt es aber andere methoden

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Ein Blick in die weite Welt ist immer ein Blick in die Vergangenheit. Das war vor der Relativitaetstheorie ja unbekannt.

Dadurch wird die Vorstellung von Gegenwart in Frage gestellt. Deswegen erklaert die Relativitaetstheorie diese indirekt.

rincewind483 
Fragesteller
 14.05.2023, 14:14

das stimmt doch nicht. dass wir "die vergangenheit" sehen, wenn wir in den weltraum blicken, ergibt sich direkt aus den großen distanzen und der lichtgeschwindigkeit. dazu braucht es keine relativität.

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SlowPhil  14.05.2023, 15:41
@rincewind483

Potentielle Gegenwart (also "jetzt" in irgendeinem Koordinatensystem) ist praktisch alles, was noch nicht lange genug her ist, um davon schon erfahren zu haben, oder nicht mehr lange genug hin, um es noch beeinflussen zu können.

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ant8eart  14.05.2023, 16:55
@rincewind483

Natuerlich sehen wir die Vergangenheit, wenn wir in den Raum blicken.

Man sieht ja nur das, was jetzt auf die Linse hier trifft. Der Mond am Himmel ist 1,28 Sekunden alt, die Sonne 8 Minuten usw.

D.H. das Bild des Modes, der Sonne usw. ist in der Vergangenheit entstanden. Das wurde mit der Relativitaetstheorie im Zusammenhang mit der begrenzten Lichtgeschwindigkeit manifestiert.

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rincewind483 
Fragesteller
 15.05.2023, 14:34
@ant8eart

natürlich sehen wir nur die vergangenheit, wenn wir ins all blicken. das sage ich doch. dafür braucht es aber wie gesagt keine relativität. die SRT entstand nicht, weil die begrenzte lichtgeschwindigkeit entdeckt wurde, sondern weil die unveränderlichkeit der lichtgeschwindigkeit unabhängig von der eigengeschwindigkeit entdeckt wurde. das ist ein ganz erheblicher unterschied.

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