Cogito ergo non sum?

8 Antworten

Wenn ein Vegetarier bissfeste Birnen weichkocht und ein Kannibale das Muskelfleisch eines erlegten Gegners, können beide den gleichen Satz sagen: Das Fleisch ist gar. Und doch bedeutet dieser Satz für den Vegetarier etwas vollkommen anderes als für den Kanniblen, weil die gleichen Sätze in zwei vollkommen verschiedenen Realitäten gesprochen sind. Die Realität, in der Descartes seinen Satz gesprochen hat, ist eine vollkommen andere als unsere heutige oder die Steiners. Und auch die Realität Steiners, wie er sich die Welt vorgestellt hat, ist eine vollkommen andere als unsere heute und die des Descartes. Das ist die Crux der Zitatenglauberei, wenn Einzelaussagen aus dem Vorstellungszusammenhang gerissen werden.

Descartes steht an der Schwelle der Scholastik zur Neuzeit und sucht noch wie alle Scholastiker eine endgültige Gewissheit. Letztlich meint er sie in sich selbst zu finden und "ich selbst" ist für ihn das geistige, das denkende Wesen. Für die Scholastik und auch Descartes ist nur das Geistige wirklich, Tiere, Pflanzen alles Vergängliche ist nur mal eben dienend zu Hand der Krone der Schöpfung. Ketzer und als solcher verfolgt war Descartes, weil er die Quelle der Gewissheit in sich selbst verlegt hat und nicht wie die Scholastik in die heiligen Schriften und kirchlich anerkannten Autoritäten. Selbst wenn er als letzte Quelle Gott angibt, rettet er sich nicht, weil die Kirche in ihrem Machtgebaren großen Wert darauf legte, dass ausschließlich sie die Vermittlerin von Wahrheit und Gewissheit zwischen Gott und den Menschen ist.

Steiners Weltsicht ist ein esoterisches Gebräu aus vielen Quellen und in der angesprochenen Aussage liegt die Vorstellung zugrunde, dass es eine ewige Wahrheit gibt an der wir durch geistige Übung und "richtiges" Denken nur Anteil erhalten. Für Steiner ist alles Vergängliche nur ein vorübergehender Teil der ewigen Wahrheit. Das richtige Denken gibt uns Anschluss an diese ewige Wahrheit, nicht jedes Denken. "Indem der Mensch das selbständige Wahre und Gute in seinem Innern aufleben läßt, erhebt er sich über die bloße Empfindungsseele. Der ewige Geist scheint in diese herein. Ein Licht geht in ihr auf, das unvergänglich ist." (http://anthrowiki.at/Bewusstseinsseele) Da gibt es die "Bewusstseinsseele", die "Verstandesseele" und die "Empfindungsseele" und das "Ich" usw.. Dagegen ist Aristoteles mit seinen drei Seelenteilen noch ein Waisenknabe.

scoredelia  05.06.2018, 05:52

Stimmt, Descartes Satz wurde deshalb so berühmt, weil er damals etwas komplett neues war und zum ersten(?) Mal ein humanistisches Menschenbild, also das eines durch seinen Willen (selbst-)bestimmten und durch sein Denken befähigten Menschen andeutete. Damit eröffnete er auch die Möglichkeit für jeden dnekenden mensch selbst einen Bezug zu Gott zu finden.
In der Scholastik waren Menschen keine Individuen sondern Lämmer (oder sollte man sagen Schafe?) des "guten Hirten" in Rom und diesem "Pontifex maximus" (=Großer Brückenbauer) bedingungslos unterworfen.
In diesem Titel zeigt sich der Anspruch der katholischen Kirche auf das Monopol mit Gott zu kommunizieren , also "die Brücke zu Gott und damit zum Paradies" zu bauen. Nun, wers glaubt wird selig. Diese Doktrin ist der Jahrhunderte dauernde Zankapfel und Anlass für etliche Kriege in Europa.
Steiner dreht diesen Gedanken vor einem komplett anderen gesellschaftlichen Hintergund um, indem er darauf verweist, dass der Mensch eben nicht in seinen Entscheidungen ist, sondern durch zum guten Teil durch ein Numinoses (Triebe und Instinkte?) gesteuert wird. Zudem konnte Steiner mit der Vorstellung vom Menschen als reinem Vernunftwesen nicht viel Anfangen. Jeder der mit offenen Augen um sich sieht, weiß auch warum.

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berkersheim  05.06.2018, 10:52
@scoredelia

Es ist richtig, dass Descartes Satz für seine Zeitgenossen neu war, insoweit sie durch die Macht der Kirche abgeschnitten waren von den Florentiner Renaissance-Philosophen und erst recht von der Lebenskunst-Philosophie der Antike. Da hat Descartes doch nur den allgemeinen Homo-Mensura-Satz des Protagoras auf sich bezogen. Er lautet: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, dass sie sind, der nichtseienden, dass sie nicht sind.“

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scoredelia  19.06.2018, 22:49
@berkersheim

Danke für die Ergänzung. Es ist immer gut wenn Menschen die in finsteren Zeiten noch eine geistige Lampe am brennen halten dieses Licht auch den anderen zukommen lassen, die sonst im Dunkel stehen. Das gilt für Descartes und für dich.

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Du brauchst Dich nicht beirren zu lassen. Descartes' Spruch bedeutet nicht, Dein Sein sei gleichsam eine Wirkung Deines Denkens.

Er bedeutet, dass allein schon die Tatsache, dass Du Dir die Frage »existiere ich eigentlich« überhaupt stellen kannst, beweist, dass die Antwort nur »ja« lauten kann.

Und das ist unmittelbar einleuchtend.

Steiners Antithese ist das nicht. Womöglich - das weiß ich erst, wenn ich mich mal mit dem Text befasse - beruht sie auch noch auf einer Fehlinterpretation.

Fühlen ist natürlich ein ebenso unmittelbare subjektives Element, wobei ich mit »subjektiv« nicht meine, es sei weniger gewiss, sondern im Gegenteil das einzig wirklich Gewisse.

Wenn Du weißt, dass Du fühlst, weißt Du auch, dass Du notwendigerweise bist. Weniger gewiss ist der »objektive« Reiz, von dem Du den Eindruck hast, es habe das Gefühl ausgelöst, schließlich träumen wir auch und haben dabei starke Gefühle und sehen und hören Dinge, die sie auslösen. Real sind sie dennoch nicht.

SedOwl  10.11.2016, 20:41

Hi, SlowPhil, durch solche Beiträge ist GF auf dem Weg, selbst mir "altem Grantler" zu gefallen. Danke.

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Also für ich denke also bin ich nicht, fällt mir als denkendes Individuum keine logische Erklärung ein. Sorry.

Und weil ein selbsternannter Hellseher und Esoteriker solche Theorien aufstellt, so bekannt dieser Mensch auch sein mag, müssen diese noch lange keinen Sinn ergeben.

Ich kenne mich mit Steiner nicht aus. Aber es gibt auch in den östlichen Traditionen, im Buddhismus Ansätze in diese Richtung.

Man kann es so sehen: In dem Moment, wo du denkst, bist du nicht (ganz), weil das Denken dich von der unmittlbaren Erfahrung deiner Umgebung, deines Körpers abtrennt. In der Meditation geht es ja auch eher darum, durch waches Beobachten das Denken unnötig werden zu lassen. Das ist natürlich von mir sehr vereinfacht dargestellt.

Wie wärs mit: "Ich fühle, also bin ich"?

Oder findet Selbsterkenntnis etwa nur im Kopf statt?

SlowPhil  10.11.2016, 01:11
Wie wäre es mit: "Ich fühle, also bin ich"?

Das steht mitnichten im Widerspruch zu "ich denke, also bin ich" und steht auch in keiner Konkurrenz dazu.

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Imago8  10.11.2016, 11:46
@SlowPhil

"Cogito ergo sum" finde ich nicht falsch, aber zu kurz gegriffen.

Ich finde die Fähigkeit zu fühlen definiert uns mehr als die Fähigkeit zu denken.

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DarkSepia  10.11.2016, 13:18
@Imago8

Es ging Descartes nicht darum, uns genau zu definieren, sondern sich seiner eigenen Existenz sicher zu sein.

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Grautvornix16  10.11.2016, 18:49
@Imago8

Meinst du das für das >Individuum< Mensch oder das >Gattungswesen< Mensch allgemein?

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Belasse es bei "Cogito ergo sum", das ist Logik. Es wird wohl immer wieder "Steiners" geben, was soll´s - es lohnt nicht.