Systemsprenger oder doch nur einfach gemachte Arbeit?

5 Antworten

"Systemsprenger" ist keine ärztlichen Diagnose.

Systemsprenger ist ein Arbeitsbegriff für Kinder und Jugendlichen, die bereits aus mehreren Einrichtungen geflogen sind und für die es nahezu unmöglich ist, einen Platz im Regel- oder Intensivangebot zu bekommen.

Und dann fängt die richtige Arbeit an: Was tun mit Kindern und Jugendlichen, die in kein "System" zu passen scheinen? In meiner Stadt gibt es hierzu fachübergreifende Beratungen, an denen neben dem Jugendamt u.a. auch Polizei und Psychiatrie teilnehmen, um doch irgendwie eine Lösung zu finden.

Woher ich das weiß:Berufserfahrung – Sozialer Dienst (Jugendamt)

Sich um ein solches Kind zu kümmern ist ein 24Std. Job.

Meine Tochter und mein Schwiegersohn, beide Erzieher, haben 10 Jahre einen bei sich aufgenommen und betreut.

Resümee: er hat die Schule geschafft, eine Ausbildung gemacht und zieht jetzt aus, alles nur mit konsequenten Maßnahmen, wozu die leibliche Mutter nicht fähig war.

Mein Schwiegersohn hat in in die Schule begleitet und war im Unterricht und denn Pausen anwesend, das kann nur in Einzelfällen geleistet werden.

Es wird nicht mit Strafen umher geschmissen. Das ist gar nicht möglich. Die EU Kinderrechtskonvention hat Kinderschutzrechte ins Leben gerufen die durchzuführen sind. Und egal was passiert, die werden angewandt.

Ich kann ein Lied davon singen. Ich bin an der Basis was Kinder betrifft. Kita, soziales Randgebiet, Schwerpunktkita, Integration (Schwerpunkt Sprache und Behinderung) Der schlimmste Fall den ich mal hatte liegt schon fast 10 Jahre zurück. Damals war das Kind 5 Jahre alt, ein Junge.

Die Mutter hatte keine Kontrolle über das Kind. Sie war mit ihrer Macht am Ende. In der Kita lief es einigermaßen mit Ecken und Kanten. Die Mutter versuchte ihr möglichstes, aber die Erziehung ihrerseits schlug fehl und der Vater war nicht zugegen.

Wenn die Mutter ihn abholen wollte von der Kita und er sie am Tor sah, dann rannte er so schnell wie der Wind zur Rutsche und kletterte hinauf. Und zwar bis hoch aufs Dach. Sie kam da nicht hoch da sie etwas rundlich war. Also stand sie davor und lockte. Wenn du runter kommst, dann bekommst du Süßkram, wir gehen einkaufen, du bekommst was schönes, ich kauf dir ein neues Auto.... und und und. Es war nix zu machen. Er kam nicht runter. Ende vom Lied, ein Erzieher kletterte rauf und holte ihn runter. Er lachte sich scheckich dabei. Das gefiel ihm. Alles Sprang und hüpfte um ihn. Sie nahm ihn bei der Hand, wollte aus dem Haus noch den Rucksack holen und was machte sie? Ließ ihn vor der Tür stehen und ging allein ins Haus. Er nutzte die Gelegenheit rannte zum Kletterbaum und schwupps war er oben. Gleiches Spielchen wie zuvor. Mutter lockte, jetzt kam aber noch drohen hinzu. Aber half nix. Auch hier musste wieder ein Erzieher hoch und ihn abpflücken. Mutter und Kind verließen endlich die Kita und ca 5 Minuten stand er wieder alleine vor der Türe, kletterte über den Zaun, und wieder rauf auf die Rutsche. Er riss sich von der Mutter los bei der nächst besten Gelegenheit. Gleiches Spielchen ein drittes mal. Der Erzieher sagte dann, du musst jetzt mitgehen, ich schließe gleich ab und du bist dann bis morgen früh alleine hier im Baum oder auf der Rutsche. Da kommt keiner mehr. Das zog dann und er ging mit. Am Folgetag kam er freudenstrahlend in die Kita, er schwenkte in der Hand ein Mickey Heftchen, hatte ne Tüte Gummibären dabei und ein neues Spielzeugauto. Also die Sachen, mit dem sie ihn lockte.

Das war so der Moment wo man sich denkt: Kopf trifft Tischplatte. Aber letztlich kann ich es verstehen. Sie hatte keine Handhabe über ihn.

Am selben Tag passierte dann etwas das habe ich davor und in den Jahren danach so nicht mehr erlebt. Und ich habe in der Kita dort schon vieles erlebt aber das war der Höhepunkt.

Nachmittags gab es zum Vesper Berliner Pfannkuchen. 6 Kinder waren noch da. Sieben Pfannkuchen lagen auf dem Teller. Der Junge machte sich das Glas voller Tee, Oberkante Trinkglas und stopfte den Pfannkuchen rein so schnell es ging weil den anderen wollte er auch noch. Er griff danach obwohl die Backen noch dich waren da er einen halben komplett reingestopft hat und dann sagte ich, das er erstmal runterschlucken soll, damit er sich nicht verschluckt und ich teile den Pfannkuchen unter den Kindern die noch etwas möchten.

Da ist er dann ausgetickt. Er schluckte schnell runter, fing an zu schreien und zu diskutieren. Dann nahm er seinen Teller, der erste von vielen die dann Flogen. Nachdem er den Teller warf stand er auf, griff in den Schrank und warf Gabeln und Messer umher. Das war der Zeitpunkt da habe ich die anderen Kinder in der Gruppe am anderen Ende des Flures untergebracht. Als ich zurück kam waren die Spielzeugautokiste und Bauklotzkiste im Raum ausgekippt und der Inhalt diente als Geschoss in Richtung alles was sich auf ihn zu bewegte.

Ich versuchte da noch an ihn ranzukommen aber da war nichts mehr zu machen. Alles was er zu greifen bekam flog. Ich habe mich dann hinter der Türe verschanzt und förmlich nach einer Kollegin geschrien, weil da schon nichts mehr ging. Ich wies sie an, einen Krankenwagen und die Mutter anzurufen, was sie auch umgehend machte. Währenddessen flogen Motorik-Schleifen und Stühle in die Fensterscheiben. und Türscheiben. Da ich da hinter stand bekam ich auch noch was ab.

Der Notarzt kam zuerst. Zwei Männer mit Schutzvisier brauchten noch knapp 5 Minuten um ihn zu schnappen und ruhig zu stellen. Wenig später traf die Mutter ein. Und auch hier ging meine Kinnlade wieder runter weil das was kam habe ich so nicht erwartet.

Sie fragte nicht nach ihrem Kind. Sie fragte nicht ob ein anderes Kind verletzt ist oder ich. Sie schaute kurz in den Raum, sah das Chaos und fragte allen ernstes, ob für sie finanzielle Repressalien anfallen würde.

Das war die einzige Sorge die sie hatte. Ich war Fassungslos, saß wie ein Häufchen Elend in der Ecke. Chefin war nicht im Haus. Sie rief dann abends bei mir an und hatte da mit dem Träger geredet. Ich bekam 2 Wochen Sonderurlaub, damit ich mich wieder fangen konnten. Das Kind wurde auch 2 Wochen beurlaubt und danach ging es munter weiter.

Weder für die Mutter noch für das Kind hatte es keine Konsequenzen. Das Kind wurde dem Jugendamt vorgestellt, mit Tabletten vollgepumpt, die aber nach 2 Stunden ihre Wirkung wieder verloren. Kam er morgens hing er wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Nach 2 Stunden war die Wirkung weg und die Einzelfallhelferin die er bekam, die hatte ihre Wahre Freude am Kind. Weiterhin hatten andere Kinder zu leiden unter diesem Jungen. Und das zog sich bis in die Grundschule. Aus 2 Schulen flog er achtkant raus, selbst die Einzelfallhelfer konnten ihn nicht bändigen, geschweige denn die Medis. Die Einzelfallhelferin die als letztes an ihm dran war sagte, das er aus der letzten Schule nicht mehr geworfen werden kann. Die sind auf die ganz schweren Fälle geeicht. Jetzt scheint er auch eine höhere Dosis Medikamente zu bekommen. Ich traf ihn und seine Mutter beim Einkaufen. Er schlurfte benebelt hinter ihr her. Aber ich möchte nicht wissen was aus ihm wird, wenn er die Medis weg lässt. Sei es aus versehen oder Absicht. Ohne Medis und mit diesem Verhalten dürfte der Weg vorgezeichnet sein.

Systemsprenger.... ja.
Strafen? .... nein.

Diagnosen werden übrigens nicht von Lehrern oder Erziehern getroffen, nicht mal der Kinderarzt würde solche Diagnosen stellen. Wenn ein Kind als Systemsprenger benannt wird, dann, zumindest in meinem Bundesland, macht es das Sozialpädiatrische Zentrum. Dort verweilen die Kinder meistens bis zu 6 Wochen, damit das Kind in Alltagssituationen beobachtet werden kann. Da sind Psychologen und Ärzte, welche Diagnosen ausstellt und auch das Jugendamt und Gesundheitsamt sehen sich solche Kinder dann auch an. Bevor ein Kind zum Systemsprenger diagnostiziert wird, dauert es manchmal bis zu 2 Jahre.

Strafen?
Du kannst einen Systemsprenger nicht bestrafen. Die Energie einer Strafe wird in Aggression gegen sich oder andere Investiert. Das muss in jeden Fall verhindert werden.

Meiner Meinung und Erfahrung nach beginnt das Problem primär bei den Eltern. Die Erziehung eines später im Erwachsenenalter gesunden Menschen gestaltet sich schwieriger als man zunächst annimmt, viele beschäftigen sich bei der Geburt eines Kindes schon gar nicht mit der Psychologie und Entwicklung. Einige beschäftigen sich, aber können korrekte Handlungen, die Auswirkungen haben gar nicht erkennen, umsetzen oder lenken.

Wenn dann ein solches Pronlemkind in der "Jugendhilfe" landet, besteht das eigentliche Problem darin, dass mit Listen, Bürokratie, Arbeitszeiten, Entgelt und vielem Weiterem gehadert werden muss, noch bevor es darum geht einem jungen Wesen ein halbwegs strukturiertes Leben zu ermöglichen.

Kaum eine Einrichtung- weder das vollkommen überlastete Jugendamt, noch eine Wohngruppe oder andere Institutionen(auch keine Psychiatrische) können sich ganzheitlich mit dem Dasein eines solchen Kindes beschäftigen.

Meistens ist in Einrichtungen mit einem Dach überm Kopf und Essen und Trinken schon aus Sicht der Einrichtungen geholfen.

Klar wird die Entwicklung begutachtet, meiner Meinung nach aber viel zu oberflächlich*, man sollte mehr Zeit mit dem Kind verbringen, als mit Dokumentationen und der Einhaltung strikter Abläufe, wobei Abläufe für manche solcher Kinder strikt sein müssen, was ein ständiger Wechsel der Fachkräfte gar nicht gewährleisten kann.

*Das ist auch kein Wunder, denn einem Betreuer o.Ä. ist es meist aufgetragen sich um mehrere Kinder gleichzeitig zu kümmern in ein paar Stunden Arbeitszeit bis die Schicht endet, muss er/sie irgendwie dafür sorgen, dass alles glimpflich abläuft.

Es gibt leider auf dieser Welt viel zu wenige Eltern, Menschen und auch Instutitionen, die dazu bereit sind alles menschenmögliche an den Tag zu legen, einem solchen Kind vollkommene Nächstenliebe zu geben.

Selbstlose Liebe zu einem schwierigen Kind mit dem Versuch es zu verstehen und individuell zu behandeln mit allen Problemen die es gibt, gibt es nicht mehr.

Weder bei Eltern noch in der Jugendhilfe.

Diagnosen bei Kindern werden auch nicht ganzheitlich gestellt, es sollten viele Ärzte gerade bei Kindern Hand in Hand mit Familien und Behörden arbeiten, aber das wird wohl erst möglich sein...

naja ich sage mal nicht wann, ich nenne nur ein ungefähr wiedergegebenes Zitat aus einem Buch:

Wohl dem der Weisheit erlangt und Unterscheidungsvermögen

Ich wünsche euch das Beste. Grüße gehen raus

 ohne wirkliche Vorkenntnisse und Wissen diagnostiziert

Das leichtfertige Vergeben eines solchen Etiketts sagt schnell mehr über die sprechende Person als über das betroffene Kind/die_den betroffene Jugendliche:n.

"Diagnostizieren" erfordert ja gerade die Verwendung und Zuordnung von festen Kriterien zu einem Fall.

Nach Menno Baumann (2014) etwa:

Hoch-Risiko-Klientel, welches sich in einer durch Brüche geprägten negativen Interaktionsspirale mit dem Hilfesystem, den Bildungsinstitutionen und der Gesellschaft befindet und diese durch als schwierig wahrgenommene Verhaltensweisen aktiv mitgestaltet.

(Beachte: Diese Definition zieht das "System" als Problemgrund mit ein!)

Und wenn eine solche Einordnung als "Systemsprenger" ernst genommen wird, wird die Arbeit ja gerade nicht einfacher, sondern umfangreicher. Jetzt muss nämlich das eigene System in Frage gestellt und an der Durchbrechung der Abwärtsspirale gearbeitet werden!

Wer also lapidar von "Systemsprenger" spricht, sollte zurückgefragt werden: OK, was ist bei dir hier zu ändern, an deinem Vorgehen – und erst dann danach, was an den Angeboten ggü. dem "Systemsprenger" zu ändern sei.