Es ist nie vorbei! – 3 Jahre für den Täter. Lebenslänglich für mich.
Mit 14 war ich – wie man heute gerne euphemistisch sagt – „Betroffene“. Nein, nicht von einem schweren Verkehrsunfall. Auch nicht von einer Naturkatastrophe. Sondern von einem Menschen. Einem Täter. Und einem Moment, der alles veränderte.
Ich erspare mir – und euch – die Details. Nicht, weil ich sie vergessen habe. Ganz im Gegenteil: Mein Körper erinnert sich. Mein Nervensystem auch. Und manchmal mein ganzer Tag. Aber sie aufzuschreiben würde mir nichts bringen. Es würde euch neugierig machen, vielleicht betroffen, vielleicht angewidert – aber das hier ist nicht seine Geschichte.
36 Monate. Jugendstrafe.
Das war’s dann. Das Urteil. Sauber abgeschlossen, juristisch durch. Für die Akte: „Jugendstrafe wegen sexuellen Übergriffs“. Punkt. Strafe verbüßt. Leben geht weiter.
Seins.
Meins? Lebenslänglich.
Und damit meine ich nicht „ein bisschen traurig“ oder „das Vertrauen in Männer ist jetzt halt weg“. Nein. Ich meine Panikattacken. Ich meine, mitten im Supermarkt zu Boden zu sinken, weil irgendwer eine Stimme hat, die ähnlich klingt wie seine. Ich meine Nächte ohne Schlaf. Ich meine Flashbacks, die so real sind, dass mein ganzer Körper wieder glaubt, ich sei 14 und ausgeliefert.
Ich meine Selbstverletzung, weil der seelische Schmerz irgendwann körperlich werden muss, um erträglich zu sein. Ich meine Bulimie – weil es sich wenigstens wie Kontrolle anfühlt, wenn man sonst keine mehr hat. Ich meine die Diagnose: Borderline.
Und ich meine Klinik. Mehrfach. KJPU – das steht für Kinder- und Jugendpsychiatrische Unterbringung. Heißt: Wochen, Monate ohne Zuhause. Dafür mit Regeln, Gesprächen, Medikamenten – und anderen, die ähnlich zerbrochen sind.
Die Narben? Manche sieht man. Die meisten nicht.
Ja, es wurde besser. Ich habe gute Therapeutinnen getroffen. Ich habe lernen dürfen, dass mein Wert nicht von dem abhängt, was mir passiert ist. Dass ich Überlebende bin. Aber...
Es ist nie ganz vorbei.
Du kannst zehn Jahre lang „stabil“ sein – und dann reicht ein Geruch. Ein Lied. Ein Satz. Und du bist zurück in diesem Raum. In diesem Moment. In deinem persönlichen Gefängnis.
Er hat seine Strafe abgesessen. Ich nicht.
Und manchmal – ganz ehrlich – macht mich das wütend. Nicht weil ich mehr Rache will. Sondern weil das System sich so sehr auf ihn konzentriert hat. Auf den Täter. Seine Geschichte. Seine Reue. Seine Resozialisierung.
Ich dagegen wurde zur Akte Beweisstück A. Eine Zeugin. Kein Mensch. Zumindest nicht im Gerichtssaal. Dort war ich „Instrument der Aufklärung“. Danach war ich „gut versorgt“. Akte zu.
Aber meine Geschichte ging weiter.
Mit jedem Vorstellungsgespräch, in dem ich über Lücken im Lebenslauf stottere. Mit jedem neuen Menschen, dem ich irgendwann sagen muss: Da ist etwas, das du wissen solltest… Mit jedem Therapiestunde, in der ich mich frage, ob es je ganz heilt.
Und mit jedem Moment, in dem ich stark bin – trotzdem.
Es ist nie vorbei.
Aber ich lebe. Ich stehe auf. Ich kämpfe. Ich schreibe. Und wenn du das hier liest – und du kennst dieses Gefühl, dieses Lebenslänglich – dann möchte ich dir sagen: Du bist nicht allein. Du bist kein Fall. Kein „Schicksal“. Du bist mehr als deine Narben.
Vielleicht ist es nie ganz vorbei.
Aber wir hören auch nie auf, uns unser Leben zurückzuholen. Stück für Stück. Atemzug für Atemzug.
Für ihn waren es 3 Jahre.
Für mich ist es ein Kampf.
Aber auch: ein Weg.
Und der gehört mir.
9 Antworten
Was du hier geschrieben hast, ist kraftvoll und erschütternd zugleich. Es ist eine dieser Wahrheiten, die man kaum fassen kann und die doch so klar aus deinem Text spricht. Dein Leben wurde in ein Davor und ein Danach geteilt. Und du hast nicht nur überlebt, du hast Worte gefunden für das Unsagbare. Das allein zeigt bereits deine Stärke, auch wenn es sich für dich vermutlich oft ganz anders anfühlt.
Du beschreibst das, was viele nicht verstehen wollen: Dass Trauma kein abgeschlossener Vorgang ist, kein Ereignis mit Ablaufdatum. Es ist eine tiefe, körperlich und seelisch gespeicherte Erfahrung, die sich in Zellen, Gedanken und Gefühlen einnistet. Und ja, manchmal reicht ein Klang, ein Geruch oder ein Wort, um dich wieder hineinzuziehen. Genau deshalb ist das „Lebenslänglich“ nicht übertrieben, sondern bittere Realität für viele, die ähnliches erlebt haben.
Deine Wut ist verständlich. Sie gehört zu dir, und sie ist gesund. Denn sie richtet sich nicht gegen irgendwen, sondern gegen ein System, das oft mehr Energie darauf verwendet, Täter zu resozialisieren, als Betroffenen dauerhaft Raum und Anerkennung zu geben. Viele Überlebende tragen ein Leben lang die Verantwortung für etwas, das ihnen angetan wurde. Das ist nicht gerecht.
Was mich aber am meisten berührt, ist dein letzter Absatz. Trotz allem. Trotz Klinik, Diagnose, Narben und diesem inneren Gefängnis: Du stehst auf. Du sprichst. Du schreibst. Und du gibst damit anderen das, was du dir selbst so oft gewünscht hast: Anerkennung, Verständnis und die leise Hoffnung, dass man Schritt für Schritt ein Stück von sich selbst zurückholen kann.
Vielleicht ist es nie ganz vorbei. Aber du gehst deinen Weg. Und das ist alles andere als selbstverständlich. Es ist mutig. Es ist menschlich. Und es verdient Respekt. Von Herzen.
Tut mir leid dass du sowas erlebt haben musstest. Aber das Leben geht weiter.
Ja - es war sch...sse... - die Erinnerungen sind nicht mehr ganz so oft -
jetzt habe ich 2 Minimonster, die mich auf Trab halten, und einen Mann der mich auf Händen trägt... das hilft... trotzdem musste ich das was ich oben geschrieben habe einmal los werden!
Okay, aber Menschen ändern sich und lernen
Wäre dein Wunsch sein Leiden, nur weil du leidest? Solange du dich nicht von ihm lösen kannst, so auch nicht von jener Tat
Tut mir Leid, was du erfahren hast. Wir alle machen schreckliche Erfahrungen
Doch es ist wichtig, dass wir unser Leben annehmen und das Beste daraus machen. Ich meine, was wäre die Alternative?
Leichter gesagt als getan, schon klar. Und vielleicht wird es dich tatsächlich das Leben lang belasten, aber nicht in jeder Minute, und das ist was zählt. Schaff dir ein schönes Leben, du hast dir das verdient 🙏
Das klingt alles wunderbar
Und ich bin mir sicher, bzw ich hoffe, es plagt noch heute diesen Täter.
Aber es ist eigentlich nicht wirklich wert, darüber nachzudenken. Sei froh, trägst du keine Schuld daran 🙏
Hab eine wunderbare Zeit 🌞
Ich war selber "Betroffene" und bei mir haben die Täter überhaupt keine Strafe bekommen. Das mag irgendwo meine "Schuld" sein aber letztenendes bin ich auch einfach froh dass ich da raus bin.
Auch mich macht es immer wieder wütend dass die Täter frei rumlaufen und ein vergleichsweise unbekümmertes Leben führen dürfen.
Allerdings muss man auch sagen, dass jeder eine zweite Chance bekommen sollte, und dazu gehört eben auch, dass Strafen verbüßt werden und dann das Thema durch ist, sofern die Täter Einsicht haben, gelernt haben und sich geändert haben, das ist leider nicht immer der Fall, da müsste es vielleicht eine Zeit lang strengere Auflagen geben.
Trotzdem ist es wichtig dass man sich immer wieder vor Augen führen sollte was Missbrauch für die Opfer bedeutet, du hast absolut recht das die folgen weit über die eigentliche Tatzeit hinausgehen. Ich habe erst seit einem Jahr ein neues Leben angefangen und werde noch viele Jahre daran arbeiten müssen, aber ich bin froh darüber dass ich das kann, und jetzt als einen Schritt mich im Internet wieder in die Öffentlichkeit zu trauen und darüber zu reden um andere zu sensibilisieren und vielleicht sogar zu helfen.
Ich wünsche dir alles Gute und dass es dir gelingt immer weiter ein Stück weit weiter in deinem Leben zu kommen.
Es ist leider so das Straftaten, auch ziemlich schlimme Taten nach JGG, Jugendgerichtsgesetz, leider oft ziemlich gering bestraft werden. Das Urteil scheint recht lasch, unzureichend. Jugendstrafen scheinen oft lächerlich. Und auch nach dem StGB bei Erwachsenen fallen manche Urteile zu gering aus.
Ja, die Resozialisierung von Straftätern scheint oft über dem Wohl von Opfern zu stehen. Die können in der Regel zusehen wie sie später im Leben zurecht kommen. Für Nicht-Juristen schwer verständlich. Ich habe 30 Jahre in der Justiz, im Strafvollzug hinter mir. Und auch in der Justiz zweifeln wir die Rechtsprechung manchmal an und sind fassungslos. Aber so ist das hierzulande nun mal.
Deine Offenbarung hier finde ich stark. Ich wünsche dir die Kraft und den richtigen Weg um diese Sache zu überwinden. Wieder so unbeschwert wie möglich leben zu können. Und ich hoffe das du anderen Betroffenen, die das lesen, damit helfen kannst wieder Mut zu fassen. Ich wünsche dir alles Gute.
Es belastet nicht mehr jeden Tag - nur hin und wieder mal - die Vergangenheit bestimmt nicht mehr mein Leben, zum Glück.
Jetzt sind es meine zwei Sonnenscheine - und ein Mann der mich liebt, meine Vergangenheit kennt, sie respektiert und mich auf Händen trägt!