Zwei (mit Variationen) oder drei biologische Geschlechter?

2 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Zurzeit verschiebt sich die Definition von einem strikten binären System zu einem Spektrum, bei dem männlich und weiblich die Extreme sind:

Dabei sieht der breite wissenschaftliche Konsens mittlerweile anders aus: Geschlecht ist ein Spektrum. Wenn man bei dem Bild bleiben möchte, sind Mann und Frau zwar an den gegenüberliegenden Enden, dazwischen ist aber ganz schön was los.

https://www.dw.com/de/zwei-geschlechter-ein-alter-hut/a-57053524

Im Detail:

https://www.gutefrage.net/frage/ist-geschlecht-strikt-binaer#answer-529247503

Neben Sex (biologisches Geschlecht) wird auch die Geschlechtsidentität (Gender), Geschlechterrolle und sexuelle Orientierung als Kontinuum (Bandbreite/Spektrum) gesehen:

Bild zum Beitrag

 - (Sex, Sexualität, Biologie)

lolsjsjshf 
Fragesteller
 11.02.2024, 17:26

Vielen Dank! Es ist aufjedenfall die erste Antwort, die wirklich auf meine Fragestellung wissenschaftlich eingeht.

Also Sex ist ein Spektrum mit den Extremen maennlich und weiblich. Wuerden intersexpersonen ein separates drittes biologisches Geschlecht innerhalb dieses Spektrums bilden laut Wissenschaft?

0
Mayahuel  11.02.2024, 17:45
@lolsjsjshf

Für gewöhnlich wird Intersex nicht als 3. Geschlecht bezeichnet. Es wird aber explizit darauf hingewiesen, dass männlich und weiblich nicht strikt trennbar sind.

Aus der Zeitschrift Medizinische Genetik: das binäre Modell widerspricht den neuesten Erkenntnissen in Biologie und Humanmedizin.

Research in this context needs to acknowledge that a binary model of only two mutually exclusive sexes is in conflict with both old and recent findings in biology, medicine and the humanities.
This binary model is based on presumptions that cannot accommodate the dynamics and complexity of the phenomena of sex development and expression, or the diversity of experiences of sex, gender and their meanings.

https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/medgen-2023-2039/html

Sex (biologisches Geschlecht) ist ein Spektrum (Bandbreite, Kontinuum) mit männlich und weiblich als Extreme an den beiden Rändern in dieser Grafik (ganz oben das chromosomale, dann das gonadale und das genitale Geschlecht abgebildet.:

https://images.gutefrage.net/media/fragen-antworten/bilder/529247503/0_full.webp?v=1704873725000

Das biologische Geschlecht, auch somatische Geschlecht genannt, besteht aus einem chromosomalen, genitalen, gono­duk­talen und gonadalen Geschlecht.

Quelle: Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch

Online: https://www.pschyrembel.de/geschlecht/K08P4/doc/

Jedes dieser biologischen Geschlechter (bzw Dimensionen) hat eine Bandbreite (Spektrum, Kontinuum), kann also unterschiedlich ausgeprägt sein. Geschlecht ist ein mehrdimensionales Spektrum, in der jede Dimension eher weiblich oder eher männlich sein kann. Sie können sich also widersprechen:

their sex chromosomes say one thing, but their gonads (ovaries or testes) or sexual anatomy say another.

https://www.scientificamerican.com/article/sex-redefined-the-idea-of-2-sexes-is-overly-simplistic1/

Darum meint die Fachzeitschrift nature: nur männlich und weiblich ist eine Vereinfachung von einem Spektrum:

The idea of two sexes is simplistic. Biologists now think there is a wider spectrum than that.

https://www.nature.com/articles/518288a#Tab1

Biologisches Geschlecht (Sex) ist komplexer als nur männlich und weiblich

The research and medical community now sees sex as more complex than male and female, and gender as a spectrum that includes transgender people and those who identify as neither male nor female.

https://www.nature.com/articles/d41586-018-07238-8

1
lolsjsjshf 
Fragesteller
 11.02.2024, 20:21
@Mayahuel

Vielen Dank!! Das hat mir sehr weiter geholfen.

0

Es wird seitens Gender-Ideologen leider viel Verwirrung gestiftet und naturwissenschaftliche Erkenntnisse aus dem Zusammenhang gerissen.

Vorab möchte ich festhalten, dass ich es generell schwierig finde, von einem wissenschaftlichen Konsens zu reden. Die Idee eines Konsenses wird bei vielen Themen gerne in den Raum gestellt und als Kampfbegriff/Totschlagargument missbraucht. Wissenschaft ist aber keine Mehrheitsentscheidung. Selbst wenn sich 99 % der Wissenschaftler in einer Sache einig sind, kann das restliche Prozent valide Argumente haben, um dem Konsens zu widersprechen. Dennoch gibt es einige grundlegende Bereiche, in denen sich die allermeisten seriösen Akteure der Naturwissenschaften einig sind. Eines davon ist die Definition des biologischen Geschlechts.

Die Biologie besagt, dass es bei Gonochoristen wie dem Menschen nur zwei biologische Geschlechter (lat. Sexus) gibt. Definiert wird das biologische Geschlecht durch die Tendenz eines Individuums zur Produktion einer bestimmten Art von Keimzelle im Rahmen der sexuellen Fortpflanzung zum Zwecke der Rekombination von DNA. Determiniert werden das Geschlecht und seine primären und sekundären Merkmale durch verschiedene Faktoren (beispielsweise Hormone), die letztlich aber alle auf die Chromosomen zurückzuführen sind. Bislang wurden nur zwei Arten von Keimzellen (Gameten) identifiziert: Eizellen und Spermien. Erst wenn eine dritte (funktionstüchtige) Gametenart entdeckt werden würde, wäre ein Pardigmenwechsel in der Biologie notwendig und der Konsens müsste sich wandeln.

Es wäre jedoch zu sehr vereinfacht, wenn man es dabei belassen würde. Denn wie du schon selber erkannt hast, gibt es beim Menschen zusätzlich das Phänomen der Intersexualität (Pseudohermaphroditismus) mit verschiedenen, selten vorkommenden Varianten/Störungen der Geschlechtsentwicklung. Zu diesem Phänomen gibt es viele spannende Untersuchungen. Von Gender-Ideologen wird inflationär auf einen Artikel von Claire Ainsworth im Fachmagazin nature verwiesen:

Sex redefined: The idea of two sexes is simplistic. Biologists now think there is a wider spectrum than that.

Bei wissenschaftlichen Publikationen spielt die Wort- und Titelwahl eine große Rolle, um Aufmerksamkeit zu erlagen und damit den persönlichen Impact zu steigern. Clickbaiting kommt deshalb auch bei wissenschaftlichen Arbeiten vor. Der Artikel (und selbst der Titel) besagen aber bei näherer Betrachtung gar nicht das, was Gender-Ideologen darin zu erkennen glauben. Das Spektrum an Intersexvarianten wird in dem Artikel wissenschaftlich korrekt dargestellt und als eine Ergänzung zur Zweigeschlechtlichkeit des Menschen definiert, jedoch nicht als drittes Geschlecht. An keiner Stelle des Artikels wird das binäre biologische Geschlecht angezweifelt. Das taten Gender-Aktivisten erst nach der Veröffentlichung des Artikels unter Berufung auf Zitate aus dem Artikel, in denen gar nicht vom biologische Geschlecht die Rede ist, mutmaßlich in der Hoffnung, dass die meisten Leute wohl nur den Titel lesen (und missverstehen). Und damit hatten sie offenbar Erfolg, weshalb das angeblich von Biologen bestätige Spektrum des biologischen Geschlechts vermehrt durch die Medien und in der Folge auch durch die Köpfe der Menschen spukt und diese Unsicherheit verursacht, die auch dich scheinbar zu deiner Frage bewogen hat. Aus dieser Stimmungslage resultierende vor einiger Zeit sogar die konkrete Frage an die Autorin des nature-Artikels: "Behaupten Sie in Ihrem Artikel ‚Sex redefined‘, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt?" Sie antwortete: Claire Ainsworth auf X: „@martian_munk No, not at all. Two sexes, with a continuum of variation in anatomy/physiology.“ / X (twitter.com)

Die Autorin des Artikels bestätigt also eindeutig die Zweigeschlechtlichkeit und definiert das Spektrum an Intersexvarianten als eine Ergänzung.

Und das ist auch vernünftig, denn Intersexualität tritt (je nach Schätzung) nur bei einer von 500 Geburten auf (Prävalenz = 0,2 %). Das macht die Intersexualität vergleichbar mit anderen Entwicklungsstörungen wie z.B. Polydaktylie (mehr als 10 Finger und/oder Zehen) mit einer vergleichbaren Prävalenz (Polydactylism | DrGreene). Schaut man sich das Typusexemplar des Menschen (-> Carl von Linné) an, stellt man mit wenig Überraschung fest, dass unsere Spezies 10 Fingern besitzt. Kein seriöser Biologe würde aufgrund von seltenen Entwicklungsstörungen auf die Idee kommen, die Anzahl der Finger des Menschen als ein Spektrum zu definieren oder Betroffene von Polydaktylie gar als neue Spezies zu beschreiben. Es gibt ein Spektrum an Störungen, das macht die offensichtliche Norm aber zu keinem Bestandteil des jeweiligen Spektrums.

Die Geschlechtlichkeit des Menschen ist aus naturwissenschaftlicher Sicht also ein eindeutig binäres System, mit sehr seltenen Abweichungen. Naturwissenschaften dienen dazu, die Natur zu beschreiben; die Biologie konkret die belebte Natur. Es wird klar und unmissverständlich definiert, dass der Mensch 10 Finger, 10 Zehen und eines von zwei Geschlechtern hat. Nicht mehr, nicht weniger. Seltene Entwicklungsstörungen sind ein spannender Forschungszweig, dürfen aber nicht den Eindruck erwecken, dass grundlegende biologische Sachverhalte plötzlich so kompliziert seien, dass nur Akademiker sie begreifen. Dieses Bestreben haben Gender-Ideologen aber offenbar, um zu desinformieren, die Deutungshoheit zu erlangen und so ihre Weltanschauung durchzusetzen. Das ist nicht nur wissenschaftsfeindlich, sondern wird am Ende sogar auf dem Rücken derjenigen Minderheiten ausgetragen, die tatsächlich z.B. von Intersexualität oder Geschlechtsdysphorie (Transsexualität) betroffen sind.

Frauen haben ja auch unterschiedlich viel Testosteron und Maenner Östrogen, weshalb ''Sex'' also nicht binär/zweiteilig ist, sondern ein Spektrum mit Leuten dazwischen und aus verschiedenen Variationen ist.

Nein, da ziehst du den falschen Schluss. Der Hormonspiegel bewegt sich in einem Bereich, der medizinisch als normal oder eben auch nicht normal für das jeweilige Geschlecht definiert wird. Solange aber die Veranlagung zur Produktion einer bestimmten Art von Keimzelle über die Chromosomen identifiziert werden kann, ist auch das biologische Geschlecht eindeutig zu benennen. Einige Varianten der Intersexualität können zwar Hormonstörungen verursachen, umgekehrt machen Hormonstörungen eine Person aber noch lange nicht intersexuell.

Ich frage mich auch, waere es nicht diskriminierend zu sagen, dass intersex kein eigenes biologisches Geschlecht bildet, wenn die allgemein wissenschaftliche biologische Definition von Geschlecht besagen wuerde, dass intersex kein drittes Geschlecht, sondern Variationen/Abweichungen von maennlich und weiblich bildet?

Wissenschaft diskriminiert nicht, sondern Menschen diskriminieren. Nur weil Intersexualität in der Biologie nicht als drittes Geschlecht definiert wird, bedeutet das nicht, dass Betroffene dadurch diskriminiert werden. Um Diskriminierung zu verhindern, muss man das wissenschaftliche Parkett verlassen und das gesellschaftliche Miteinander in den Fokus rücken. Dies wurde für Betroffene von Intersexualität bereits getan, denn für diejenigen Intersexuellen, bei denen das biologische Geschlecht bei der Geburt nicht eindeutig festgestellt werden kann, wurde ein drittes juristisches Geschlecht (divers) eingeführt.

Mir ist bewusst, dass es keinen Sinn macht, Sex so hervorzuheben und Gender und Sex voneinander zu trennen, weil eine Person beides hat und beides zusammenhaengt.

Eine Differenzierung ist aber enorm wichtig! Sonst vermischen sich die Belange von z.B. Intersexuellen und Transsexuellen mit denen von sogenannten "Trans*-Personen", was ich als Ally für erstere für sehr gefährlich halte. Wenn dich diese Problematik interessiert, verweise ich gerne auf die Vereinigung-TransSexuelle-Menschen e.V.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung