Wie sehen sich Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft als klar gegeneinander abgrenzbar?

9 Antworten

Sinnvoll scheint folgende Antwort:

  • Naturwissenschaft ist ein systematisches Beobachten, Erforschen und Vorhersagen des Verhaltens der Natur. Ziel der Naturwissenschaft kann nur sein, möglichst genau zu untersuchen, wie sich Wirklichkeit dem Menschen gegenüber darstellt (d.h. welches Bild der Wirklichkeit - man sagt auch: welche Realität - sein Verstand für ihn generiert).
  • Geisteswissenschaft befasst sich mit Kreationen des menschlichen Geistes, die dieser Geist um ihrer selbst willen erschaffen hat (Kunst, Literatur, Musik). 
  • Religionswissenschaft befasst sich mit Fragen über durch manche Menschen vermutete Wirklichkeit sowie mit der Geschichte des Entstehens dieser Vorstellungen. 
  • Geschichtswissenschaft befasst sich mit der Realität unserer Vergangenheit. 
  • Mathematik ist Werkzeug und gemeinsame Schnittmenge aller Natur- und Geisteswissenschaften. 

Bitte beachten:

Das vom menschlichen Verstand gezeichnete Bild der Wirklichkeit ist nicht dasselbe wie die Wirklichkeit selbst. Es ist deswegen falsch, zu behaupten, dass nur Geisteswissenschaft sich mit den Produkten des Geistes befasse.

holodeck  05.02.2016, 09:00

Du hast die Metawissenschaften vergessen: Kybernetik und Systemtheorien beispielsweise. Die auch in der Psychologie, der Biologie und den Sozialwissenschaften starke Impulse setzten. Das von dir benannte Ziel der "Naturwissenschaften" gehört epistemologisch aus dem Radikalen Konstruktivismus heraus begründet zu den Metawissenschaften ;-)      

Auch Geisteswissenschaft ist systematisches Beobachten. Wie eine Psychologie Professorin von mir zu sagen pflegte: "Gibt es auch Wahnsinn, hat es doch Methoden."

Der große Denker und Kybernetiker Gregory Bateson schrieb in Ökologie des Geistes einst sinngemäß: in den Naturwissenschaften beobachten wir Ursachen von Ereignissen und erwarten, dass sie real sind. In den Geisteswissenschaften kann etwas was nicht ist eine Ursache sein. Der Brief, den ich nicht schreibe, kann eine wütende Reaktion auslösen. Neben Kausalität sind die ganzen physikalischen Gesetze von Einfluss und Kraft irreführend, sobald wir Systeme beobachten, die lebendig sind oder Lebendiges einschließen: Ein Hund, den ich trete, wird die Energie für seine Reaktion aus seinem Stoffwechsel beziehen; nicht aus meinem Tritt. Falsche Begrifflichkeiten verführen dazu, die falschen Fragen zu stellen und Antworten zu finden, welche die Phänomene nicht erklären.  

2
grtgrt 
Fragesteller
 05.02.2016, 12:46
@holodeck

Natürlich ist auch Geisteswissenschaft systematisches Beobachten - der Unterschied zur Naturwissenschaft liegt eben darin, was beobachtet wird (Kreationen des menschlichen Geistes bzw. das Verhalten der Natur).

Was Kybernetik und Systemtheorie betrifft, könnt man (meiner Meinung nach) schon argumentieren, dass sie etwas betrachten, das Konsequenz von Naturgesetzen ist. Damit wären sie nach meiner Definition Teil der Naturwissenschaft.

0
grtgrt 
Fragesteller
 05.02.2016, 12:53
@holodeck

Was meine Einteilung der Wissenschaften in disjunkte Kategorien eher fragwürdig erscheinen lässt, scheint mir die Tatsache zu sein, dass ja auch rein geistige Objekte als Teil der Natur gesehen werden müssen - dann jedenfalls, wenn man Geist als Teil der Natur sieht (was eigentlich doch zwingend erscheint, oder?).

So argumentierend müsste man dann aber wohl sagen: Es gibt keine klare Trennung von Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft.

1
grtgrt 
Fragesteller
 05.02.2016, 13:42
@grtgrt

Dieser extreme Standpunkt allerdings dürfte wenig hilfreich sein. 

Interessant scheint er höchstens im Zusammenhang mit der Frage, wie weit sich (menschlicher) Geist und Materie denn überhaupt von einander trennen lassen.

1

Einen schönen guten Morgen dir,

Eine sehr interessante Frage die du da hast. Ich will den ganzen konservativen Denkern hier nicht auf den Schlips treten, aber ich habe eine sehr einfache Antwort: es gibt keinen Unterschied.

Das klingt erstmals sehr paradox, aber lass es mich erst erklären und dann kannst du mich immer noch für dumm befinden!
Die Wissenschaft vertritt den Ansatz, dass alles bewiesen werden muss. Experimente und Theorien sind dir ja bestimmt geläufig.
Die Geisteswissenschaft (ich greife jetzt als krassen Gegenpol mal die Esoterik raus, nur um es besonders drastisch zu machen) vertritt den Ansatz, dass man alles Wissen in sich trägt und alles bereits weiß, sich nur zu erinnern braucht (Innerer göttlicher Teil und so).

Die beiden Ansätze haben jedoch gemein, dass es kein objektiv gültiges Argument gibt, warum ihr Ansatz korrekt ist. Die Wissenschaft kann alles begründen, nur nicht sich selber. Und gleiches gilt für die Esoterik. Sie müssen also im Umkehrschluss beide subjektive Hirngespinste sein.

Jetzt kommt der Stechus Knacktus meiner Überlegung, auf den es dann folglich herausläuft: Die Wissenschaft und Esoterik beschreiben beide eine Welt, die nicht existent ist, da sie Modelle sind. Da kommen wir dann zu Dingen wie dem Idealtypus von Max Weber usw. Es hilft ungemein zu erkennen, dass Esoterik und Exoterik auch das gleiche, wenn nicht sogar das selbe sagen!
Exoterik (Wissenschaft): Alles ist relativ (Einstein)
Esoterik: alles ist subjektiv (also relativ)

In a nutshell: Alles ist. Mehr kann man nicht sagen.

Und die Antwort auf deine Frage: ich würde darauf plädieren, dass es keinen Unterschied gibt. Beides sind Ansätze, welche die Welt zu beschreiben versuchen, jedoch nicht die Welt sind.

Wenn es fragen geben sollte, dann immer her damit. ;~)

LG
Jack

grtgrt 
Fragesteller
 31.10.2018, 13:43

Ich würde es so ausdrücken:

  • Wissenschaft resultiert aus Kreativität gepaart mit streng logischem Denken.
  • Esoterik ist Pseudowissenschaft, denn: Sie respektiert nicht die durch Logik gesetzten Grenzen. Allzu oft wird da einfach nur phantasiert.
0
JackFrank  31.10.2018, 14:04
@grtgrt

mir scheint fast du bist noch nie einem guten Esoteriker begegnet ^^ was du meinst nennt sich Idiot, nicht Esoteriker. Esoteriker sind streng logisch und phantasieren nicht. Leider sind nur 1% von den Leuten die sich Esoteriker nennen tatsächlich Esoteriker und 99% weltfremde Spinner. :/

0
grtgrt 
Fragesteller
 31.10.2018, 14:11
@JackFrank

Ich kann dich verstehen. Aber frage mal UteAusMuenchen, wen alles sie als Esoteriker einordnet (und warum).

Mit anderen Worten: Der weitaus größte Teil aller Wissenschaftler macht nicht die feine Unterscheidung, von der Du sprichst. Für sie sind Esoteriker tatsächlich Dummköpfe.

0

Mich wundert sehr, dass der Name Dilthey hier nicht sofort gefallen ist, denn das ist ja nun einmal der Vater des Gedankens. Nimm also den wissenschaftstheoretischen Faden bei Wilhelm Dilthey und seiner Hermeneutik auf ...    

Letztlich geht es an der Grenze der beiden Wissenschaftsbereiche um die Mittel und Wege der Welterkenntnis. Die Annahme, es gäbe eine Wirklichkeit an sich, die erkannt werden könne, wird von ihm verworfen. Dilthey installiert als einer der ersten überhaupt die Bedeutung von geschichtlich kulturellen Kontexten, in denen Erkenntnis (von Wirklichkeit) stattfindet.     

Die Grenze zwischen beiden Wissenschaftsformen beschreibt demnach bis heute ihre epistemologische und deshalb auch methodologische Begründung: Welterklärung vs. Weltverstehen. Darüber ließen sich jetzt ellenlange Abhandlungen schreiben. William Blake bringt es für meine Begriffe in vier Zeilen auf den Punkt:    



Does the Eagle know what is in the pit?  
Or wilt thou go ask the Mole: 
Can Wisdom be put in a silver rod? 
Or Love in a golden bowl? 

grtgrt 
Fragesteller
 31.01.2016, 14:32

Danke für den Hinweis.

Nebenbei: In http://friedrichrost.de/hm/foliensatz.pdf lese ich:

Gegenstand der Wissenschaftstheorie Diltheys sind Geisteswissenschaften = alle Wiss., die sich
auf den Menschen beziehen i. Gs. zu den Naturwiss.

Kann man das wirklich so ausdrücken?


Richtiger wäre (so scheint mir):

Gegenstand der Wissenschaftstheorie Diltheys ist Geist. 


Siehst du das auch so?

1
holodeck  31.01.2016, 18:18
@grtgrt

Ja, kann man so ausdrücken.   

Eine Wissenschaftstheorie mitsamt der aus ihr heraus abgeleiteten Methoden bezieht sich natürlich auf die Wissenschaft, die darauf aufbaut - in diesem Fall die Geisteswissenschaften. Sie ist ja ihr Fundament.         

Worauf du aber vermutlich hinaus möchtest, ist die Frage, worin denn der Forschungsgegenstand einer verstehenden Wissenschaft besteht. Und das sind in der Tat geistige Prozesse, Beziehungen und Wechselwirkungen, kurz: Geist.      

   

0

Ein weitgefächertes Thema. Ggf. hilft Dir bei der Ausführung Deiner Antwort diese Lektüre:

Three Cultures (Jerome  Kagan)

Natural Sciences, Social Sciences, and the Humanities in the 21st Century

With penetrating insight and a rare breadth and sense of history, Kagan takes us on a tour of the natural sciences, social sciences and humanities. But much more than a descriptive essay, this work is a profound commentary on the relation between knowledge and the human condition. It should be read by scholars and students in every discipline and will hopefully cultivate a bit more humility in our institutions of higher learning.”
—Richard Davidson, University of Wisconsin-Madison

Jerome Kagan’s book describes the assumptions, vocabulary, and contributions of each of these cultures and argues that the meanings of many of the concepts used by each culture are unique to it and do not apply to the others because the source of evidence for the term is special. The text summarizes the contributions of the social sciences and humanities to our understanding of human nature and questions the popular belief that biological processes are the main determinant of variation in human behavior.

http://www.cambridge.org/us/academic/subjects/psychology/psychology-general-interest/three-cultures-natural-sciences-social-sciences-and-humanities-21st-century#description

grtgrt 
Fragesteller
 31.01.2016, 10:51

Vielen Dank an dich für diese indirekte Antwort.

Aber sollte es da nicht auch Antworten geben, die deutlich kürzer sind als ein Buch von knapp 300 Seiten?

0
verreisterNutzer  31.01.2016, 11:30
@grtgrt

nun, es gibt bestimmt auch kürzere Lektüren dazu, zumindest aber grundsätzliche Haltungen, die sich auch leicht ergoogeln lassen. Dass das Eigenleistung in sich birgt, keine Frage.

Im übrigen darf man aufgrund der Anzahl der Antworten - bis jetzt 2 - erahnen, dass Du Dich (auch) selber auf den Weg machen darfst.

Nichtsdestotrotz halte ich meinen obigen Tipp aufrecht. 

Dies ggf. noch als Ergänzung: 

http://link.springer.com/article/10.1007%2Fs13132-012-0124-5

🙋

1
grtgrt 
Fragesteller
 31.01.2016, 11:42
@verreisterNutzer

Gut: In etwa 10 Tagen werde ich hier auch meine eigene Antwort geben. Zuvor aber hätte ich doch gerne die anderer kennengelernt (und nicht einfach nur die aus Wikipedia).

0
Siggy  31.10.2018, 09:14
@grtgrt

Ganz kurz: Geisteswissenschaftler glauben an Geister - Naturwissenschaftler hingegen nicht.

0

Die Abgrenzung habe ich als Student live erlebt. Ich suchte in einem Buchladen (damals gabs noch kein Amazon) nach einem bestimmten Physikbuch, was eine Verkäuferin mit hochgesteckter Frisur und Hornbrille sichtlich schockierte. "Physik?! So etwas führen wir nicht, wir sind eine schöngeistige Buchandlung!"