Was ist der Unterschied zwischen Reiner und praktischer Vernunft?

2 Antworten

Reine Vernunft ist unabhängig von Erfahrungen, und die gibt es eigentlich nicht.
Jemand, der sein ganzes Leben nur Farben gemischt hat, könnte z.B. glauben, wenn eine blaue und eine gelbe Billardkugel zusammenstoßen, dass dabei eine grüne entsteht.
Kurt Gödel hat fast 200 Jahre später gezeigt, dass die reine Vernunft ein in sich konsistentes System möglich macht, ohne dass dies mit der Realität übereinstimmen muss. Es gibt in jedem komplexen System unbeweisbare Prämissen.

Die praktische Vernunft basiert eben auf bestimmten, selbst mit der reinen Vernunft nicht beweisbaren Prämissen (Axiomen). Naturgesetze wurden immer mit der praktischen Vernunft formuliert, denn es findet erst die Beobachtung statt, dann die Interpretation.

Jennyarywkke 
Fragesteller
 27.01.2023, 16:15

danke für die gute Antwort! Ich musste zwar paar Male drüber lesen, aber ich denke ich hab es jetzt verstanden :>

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Vielleicht hilft es, sich Kants berühmte vier Grundfragen der Philosophie in Erinnerung zu rufen, von denen er drei bereits in der Kritik der reinen Vernunft anführt und die für die Kritiken sicherlich leitend sind:

  • Was kann ich wissen?
  • Was soll ich tun?
  • Was darf ich hoffen?
  • Was ist der Mensch?

Kant ist nicht leicht zu verstehen. Einmal ist die Sprache über 200 Jahre alt, zum anderen wurde er aber auch schon von Zeitgenossen für seine komplizierten Formulierungen und verschachtelten, ewig langen Sätze kritisiert. Unabhängig davon gibt es kaum abstraktere Themen als Epistemologie oder Ontologie.

Trotz Studium und Lektüre aller Kritiken und anderer Werke von Kant muss ich mit Rückgriff auf Wikipedia paraphrasieren:

Die reine Vernunft umfasst nach Kant die Fähigkeit des menschlichen Denkens, Erkenntnisse ohne Rückgriff auf vorhergegangene sinnliche Erfahrung zu erlangen. Rein ist das Erkenntnisvermögen, wenn es keine bestimmte Erfahrung voraussetzt, sondern nur mit Vorstellungen arbeitet, die das Subjekt in sich selbst vorfindet oder erzeugt. Diese Erkenntnisse sind a priori, da ihre Wahrheit ohne Überprüfung in der Erfahrung feststellbar ist.

Das nur mit den Verstandesfähigkeiten Erkannte nennt Kant auch das Intelligible, in der Tradition von Platon, dass es höchste Ideen hinter den Erscheinungen gibt, die niemals mit den Sinnen, sondern nur mit dem Verstand wahrgenommen, erkannt werden können.

Das Ding an sich ist dabei das Ideal, die Idee, der

Gegenstand, der bleibt, wenn man von allen subjektiven Bedingungen der Anschauung und den Gesetzen des Erkennens absieht

bzw. die

Gegenstände der Sinnenwelt in „ihrer Beschaffenheit an sich selbst“, jenseits der „Art, wie wir sie anschauen“

Nun der Unterschied zur praktischen Vernunft:

Die reine Vernunft hat die Eigenschaft, dass sie sich sowohl theoretisch als auch praktisch vollständig von den empirischen Erfahrungen distanzieren kann. Kant spricht dann von der intelligiblen Welt. (z. B. KrV B 475) Reine praktische Vernunft ist das Vermögen, nach Vorstellungen von Gesetzen zu handeln.

Mit der praktischen Vernunft geht es also zunächst nicht mehr um Erkenntnistheorie und Metaphysik ("Was kann ich wissen?"), sondern um praktische Philosophie, also u.a. Ethik ("Was soll ich tun?").

Die reine praktische Vernunft gebietet nun, dem sich selbst aus Autonomie gegebenen Gesetz zu folgen und gute Handlungen auszuführen sowie schlechte Handlungen zu unterlassen.

Es ist letztlich Anthropologie ("Was ist der Mensch?"):

Der Mensch verfügt über praktische Vernunft, die seinen Willen bestimmt.

Und:

Die praktische Vernunft ist ein nicht zu begründendes Grundvermögen des Menschen und damit ebenso real und unableitbar wie empirische Fakten.

Ich hoffe, es ist leicht genug erklärt und hilft dir beim Verständnis so sehr wie mir das Niederschreiben.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – B.Sc., M.A., M.Sc. & Doktorand
Jennyarywkke 
Fragesteller
 27.01.2023, 18:02

Ich muss das erstmal sacken lassen, Danke für die ausführliche Antwort!! :D

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Tomwolf00  08.04.2023, 12:56

Verstehe ich das richtig, dass die reine praktische Vernunft die Ausübung der reinen Vernunft ist?Dass man bei der reinen Vernunft ersteinmal überlegt, wie man in einer Situation handeln sollte bzw. sie sich vielleicht auch gar nicht auf Situationen bezieht, sondern sich nur im Kopf abspielt - "für mich". "Eine Kugel ist rund" - ein Aussage durch das Verständnis, dass eine Kugel rund ist (und nicht, weil man Mal eine Kugel gesehen hat). Damit handle ich nicht, das waren nur Gedanken (nur eine Erlangung der Erkenntnis)

Wenn es darum geht, sich in einer bestimmten Situation zu überlegen, wie man handelt und diese Überlegung auszuführt (und dabei nur vernünftige Erwägungen eingeflossen sind), dann wäre es reine praktische Vernunft, weil man in der Ausübung die Praxis hat?

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petermaier11  08.04.2023, 16:36
@Tomwolf00

Nicht ganz. Dein Kugelbeispiel vermischt die Bereiche: bei der reinen Vernunft geht es um Erkenntnistheorie, bei der (reinen) praktischen Vernunft um Ethik.

Das Nachdenken über das richtige Handeln geschieht mit der praktischen Vernunft. Diese wird, denke ich, zusätzlich als "rein" bezeichnet, um zu betonen, dass wir im A-Priori-Bereich sind, also vor aller Empirie und Erfahrung.

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Tomwolf00  08.04.2023, 16:57
@petermaier11

Ersteinmal vielen Dank für die Antwort:) Die praktische Vernunft liefert also eine Antwort darauf, wie ich handeln sollte. Soweit so klar. Mit Erkenntnistheorie kann ich leider nicht sehr viel anfangen (bzw. mit dem Ziel der Erkenntnistheorie oder in welchen Situationen/Bereichen man es anwendet)... Vermutlich geht es bei der reinen Vernunft nicht um (bevorstehende) Situationen oder Handlungen, sondern um den Rest.

Im Prinzip bei Handlungen greift die praktische Vernunft und bei Überlegungen (, die nicht eine Handlung betreffen,) die reine Vernunft (würde hier nicht das Kugelbeispiel zutreffend sein?)? Wenn nicht, hättest du vielleicht ein Beispiel für einen Bereich der reinen Vernunft?

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petermaier11  12.04.2023, 15:20
@Tomwolf00

Ethik beschäftigt sich mit dem richtigen Handeln. Also nicht Handlungen an sich, sondern ihre Beurteilung.

Erkenntnistheorie beschäftigt damit, wie sehr die Wahrnehmungsorgane und das Gehirn an den geistigen Inhalten und darauf aufbauenden Erkenntnissen, Wahrheit und Wissen, beteiligt sind.

Dein Kugelbeispiel, nur auf die reine Vernunft angewendet, würde bedeuten, dass man Eigenschaften einer Kugel ableiten könnte, ohne jemals eine echte Kugel gesehen zu haben. Die Frage ist also, ob du wüsstest, was "rund" bedeutet, ohne jemals eine Kugel gesehen zu haben.

Kant unterscheidet zwischen synthetischen und analytischen Urteilen: analytische Urteile ergeben sich quasi aus der Begriffsdefinition: Der Raum ist ausgedehnt, weil er als ausgedehnt definiert ist. Ein synthetische Urteil ist z.B.: Der Körper ist schwer. Denn aus der Definition eines Körpers (räumliche Ausdehnung etwa) folgt nicht ohne weiteres, dass er auch schwer ist.

Kant ging es darum, Kriterien für die Möglichkeit und die Gültigkeit allgemeiner und notwendiger Urteile zu entwickeln, die von der Erfahrung unabhängig sind, ohne bloß analytisch zu sein.

Das beste Beispiel für die reine Vernunft ist wohl die Mathematik, die Kant selbst als Ideal für eine Philosophie bzw. Metaphysik nimmt.

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