Im Zen-Buddhismus gibt es ja zwei Wahrheiten?

3 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Wir schon ganz richtig von tomo1946 gesagt wurde: "Das ist die Ansicht des Buddhismus generell – nicht nur des Zen-Buddhismus".

Die Frage: "Was ist Wirklichkeit ?" durchzieht die gesamte Lehre des Buddha. Nur wirst du im Pali Kanon ( wenn du da nach "Stichworten" wie "zwei Wahrheiten" suchst ) nicht die Lehrreden finden, in denen der Buddha über dieses komplexe Thema spricht.

Er hat ja seine Reden in den seltensten Fällen nach "Themen sortiert" gehalten. Und, er hat auch nicht unbedingt die Worte benutzt, die spätere Lehrer benutzen...

Ich weiß nicht, wie viele Sutten du gelesen hast (?) Aber, selbst, wenn es 100 ( von Zigtausenden, die es gibt ) waren, wirst du darin kaum den Begriffe "zwei Wahrheiten", oder "relativ und absolut" finden.

Im Abidhamma sind aber diese Themen gut erklärt:

"Der Abhidhamma ist der dritte Teil des buddhistischen Pali-Kanons. Die Lehren des Buddha und seiner Hauptschüler erhalten in diesem Werk eine psychologische und philosophische Begründung und Ausformulierung. Abhidhamma bedeutet eigentlich der höhere Dhamma, da im Abhidhamma in Begriffen der letztendlichen Wirklichkeit (paramattha dhamma) gelehrt wird.

Der Abhidhamma ist auf das Erfahrungswissen des Buddha gegründet, das hier systematisch geordnet vorliegt. Es ist die ernüchternde und letztlich befreiende Sicht der Dinge, wie sie wirklich sind, die der Buddha durch ruhige Einsichts-Weisheits-Meditation (samatha-vipassana) erlangt hat.. Die Lehren des Buddha und seiner Hauptschüler erhalten in diesem Werk eine psychologische und philosophische Begründung und Ausformulierung. 

Abhidhamma bedeutet eigentlich der höhere Dhamma, da im Abhidhamma in Begriffen der letztendlichen Wirklichkeit (paramattha dhamma) gelehrt wird. Der Abhidhamma ist auf das Erfahrungswissen des Buddha gegründet, das hier systematisch geordnet vorliegt. Es ist die ernüchternde und letztlich befreiende Sicht der Dinge, wie sie wirklich sind, die der Buddha durch ruhige Einsichts-Weisheits-Meditation (samatha-vipassana) erlangt hat..." ( mehr dazu unten ! )...

Deshalb habe ich dir mal eine Menge Links zum Hören und Lesen zusammengesucht.

Einmal einen kurzen Ausschnitt aus dem Buch "Achtsamkeit - eine Anleitung zum Erwachen", das ich dir neulich schon empfahl, zum Thema „Relative und absolute Wahrheit - Sich um nichts sorgen, was es nicht gibt“ :

https://www.youtube.com/watch?v=oynjCccMW3M

Dann einen Vortrag von Alfred Weil zum Thema "Die Traumgleichheit des Daseins" ( weil du unten danach fragtest ):

https://www.youtube.com/watch?v=QHdBEf3_Qc0

Und dann eine Menge Lesestoff:

z.B. “Konzept und Realität im frühbuddhistischen Gedankengut” ( BUCH, 200 Seiten ) - Bikkhu Nanananda: https://drive.google.com/file/d/1UxwP9PbojK0usvEXj8_oVMLF7TAt2TEL/view?usp=drive_link

Oder zwei Artikel aus "Buddhismus Heute":

Relative Wahrheit und absolute Wirklichkeit”: https://drive.google.com/file/d/1ksYKq-5Cwxr0aImRlN93qsO4FZfkLOOG/view?usp=drive_link

Wie der relative Geist funktioniert”: https://drive.google.com/file/d/1bZ4lvrbwdkfBcWFWWA5ot-S7PHfS0h4k/view?usp=drive_link

Dann das Ebook “Abhidhamma_Patthana_Einführung”: https://drive.google.com/file/d/1W3drw8oBEH5GbamgTeDs1vQiRjeJs-Ob/view?usp=drive_link

Daraus ein Auszug aus dem Kapitel “Wirklichkeit":

Abhidhamma ist eine Wissenschaft der Wirklichkeit oder besser gesagt der "Wirklichkeiten". Zuerst gibt es die Unterscheidung in konventionelle und letztendliche Wirklichkeit oder Wahrheit. Konventionelle Wirklichkeit ist Konvention, d.h. angelernt, anerzogen, abhängig von Kultur, Sprache, Volk, Zeitepoche, Mode, usw. Im Alltag haben wir es i.A. mit Konventionen und Konzepten (paññatti) zu tun, was für den Bereich der Ethik, liebenden Güte (mettā), Mitgefühl (karuṇā), usw. unerlässlich ist. Mit Abhidhamma oder "Vipassanā-Augen" zu sehen, heißt die letztendlichen Wirklichkeiten oder ultimativen Realitäten (paramattha dhammas) hinter der Fassade der Konzepte zu erkennen und ihre Charakteristika zu durchschauen um sich von ihrer Macht zu lösen, loszulassen und den Geist zu befreien. Weiterhin ist die Wirklichkeit zweifach: Bedingt (saṅkhata) und unbedingt (asaṅkhata). Was es auch immer für Erscheinungen, Dinge, Wesen, Zustände gibt – sie sind alle bedingt. Die einzige unbedingte Wirklichkeit ist Nibbāna (Sanskrit: Nirvāna). Abhidhamma behandelt letztendliche Wirklichkeiten, bedingte wie unbedingte. 

Letztendliche Wirklichkeiten sind das, was wirklich direkt mit den sechs Sinnen erfahren werden kann. Der Abhidhamma unterscheidet vier Arten letztendlicher Wirklichkeiten:

1. Bewusstsein (citta)

2. Geistesfaktoren (cetasika)

3. Materie (rūpa)

4. Nibbāna

Diese vier Arten der Wirklichkeit werden wiederum mehrfach klassi-fiziert. Abhidhamma führt 170 (oder 202, wenn Bewusstsein in 121 Arten eingeteilt wird) verschiedene Wirklichkeiten an.

Diese letztendlichen Wirklichkeiten sind in dem Sinn letztendlich, dass ihre Eigenschaften, ihre Charakteristika, sich nicht ändern, wann immer sie gerade präsent sind, und es bedeutet nicht, dass sie selbst beständig wären. Zum Beispiel sind wir nicht immer ärgerlich, d.h. Ärger ist nicht beständig mit uns, aber wann immer Ärger auftritt, zeigt er sich mit denselben, typischen und charakteristischen Kenn-zeichen. Oder: Wir berühren nicht ständig heiße Gegenstände, aber wenn wir dies tun, ist die Erfahrung der Hitze ganz eindeutig und intuitiv. Jede letztendliche Wirklichkeit hat ihre eigene spezifische, individuelle Charakteristik, Äußerung und Funktion. Deshalb ist jede Wirklichkeit im Abhidhamma exakt definiert und kann in der eigenen Praxis mit einem scharfen, gut trainierten Geist klar unterschieden werden.

Universelle Charakteristika aller letztendlichen, bedingten Wirklich-keiten sind:

 Unbeständigkeit (anicca),

 Unzulänglichkeit oder inhärentes Leiden (dukkha),

 und Nicht-Selbst (anatta).

Im Gegensatz dazu hat Nibbāna, die einzige unbedingte Wirklich-keit, die Charakteristika von Beständigkeit und von Befriedigung, Vollkommenheit, Leidlosigkeit oder Glück (sukha). Dennoch hat Nibbāna wie die bedingten Phänomene auch die Charakteristik von Nicht-Selbst (anatta)...”

Und zuletzt eine Playlist "( Abidhamma-Tage 2018 ): "Auf der Suche nach der Wirklichkeit der Dinge: Ihre Grundlagen und Bedingungen ( 14 Videos ):

https://www.youtube.com/playlist?list=PLgeHgft4sY9kn-JAzz8rj-D-cKoKQCWMM

Tut mir leid, dass es so viel "Stoff" ist, den ich dir empfehle ! Aber, die Frage, oder das Thema, das du angeschnitten hast, ist eben nicht mit wenigen Worten zu erklären.

Und, denk daran, dass du Worte "Wahrheit", "Wirklichkeit" und Realität" in diesem Zusammenhang meist synonym benutzt werden. Der Buddha benutzte meist andere Worte, viele "Bilder" und Beispiele, um jemandem zu erläutern, was gemeint ist ( weshalb es so schwierig ist, danach im Pali Kanon zu suchen ).

Liebe Grüße: Manu

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Seit 45 Jahren praktizierender Buddhist ( Theravada )...
Angulimala1610 
Fragesteller
 25.06.2023, 16:17

Kennst du das Hannya shingyo (Herz Sutra)? Hier wird das ganz klar thematisiert: "Form ist Leerheit und Leerheit ist Form". Dabei geht es um die zwei Wahrheiten - die relative(Form) und die absolute (Leerheit). In der Aussage zeigt sich auch, das beides jeweils die Seite einer Münze ist.

Keine Ahnung, ob der Buddha über Leerheit gesprochen hat oder diese gelehrt hat - ich bilde mir ein, das kam dann erst mit Nargajuna auf(?).

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Buddhismus  26.06.2023, 07:42
@Angulimala1610

Ja, ich kenne das Herzsutra.

Natürlich hat der Buddha auch über "Leerheit" ( suññata ) gesprochen. Du musst aber immer bedenken, dass der Buddha kein "Philosoph" war, sondern Praktiker. Seine Lehrreden hielt er fast immer situativ, und - wie schon gesagt - nicht zu einem bestimmten Thema...

Nagarjuna ( und andere ) haben dann bestimmtes Aspekte seiner Lehre philosophisch ( oft geradezu poetisch ) behandelt...

Im Pali Kanon ( Mittlere Sammlung ) gibt es zwei Sutten, in denen es expliiziet um "Leerheit" geht ( allerdings auch wieder im "praktischen Sinne", also als Teil der Meditation etc. ):

Majjhima Nikāya 121 - Die kürzere Lehrrede über Leerheit - Cūḷasuññata Sutta: https://palikanon.com/majjhima/zumwinkel/m121z.html

und Majjhima Nikāya 122 - Die längere Lehrrede über Leerheit - Mahāsuññata Sutta: https://palikanon.com/majjhima/zumwinkel/m122z.html

Im Visuddhi Magga ( (13. Mit Hinsicht auf die Leerheit - suññatā ) findest du diese Formulierung:

" Im höchsten Sinne hat man alle vier Wahrheiten als leer zu betrachten, und zwar weil es da:

  • keinen Fühlenden (I),
  • keinen Täter (II),
  • keinen Erlösten (III) und
  • keinen auf dem Pfade Wandelnden (IV) gibt.

Darum heißt es:

 Bloß Leiden gibt es, doch kein Leidender ist da.
Bloß Taten gibt es, doch kein Täter findet sich.
Erlösung gibt es, doch nicht den erlösten Mann.
Den Pfad gibt es, doch keinen Wand'rer sieht man da.
 
Von Dauer, Schönheit, Glück, Persönlichkeit
Ist leer die erste und die zweite Wahrheit,
Von Ichheit leer das Todlose Gebiet,
Und leer von Dauer, Glück und Ich der Pfad..."

Erinnert doch an das Herz Sutra, oder ?

In der Playlist, die ich dir oben verlinkt habe (  "Auf der Suche nach der Wirklichkeit der Dinge: Ihre Grundlagen und Bedingungen“ ) beschäftigen sich mehrere Vorträge mit dem Thema "Leerheit":

09: Das Herz-Sutra: Form ist Leerheit – Leerheit ist Form

10: Leerheit und Mitgefühl: Zwei Seiten der gleichen Wirklichkeit

14: Stufenweise Erkenntnis der Leerheit 1: Die Leerheit der Phänomene (Vaibashika- und Sutrantika Schule )

15: Stufenweise Erkenntnis der Leerheit 2: Alles nur Geist ? (Cittamatra)

16: Stufenweise Erkenntnis der Leerheit 3: Acht Arten des Bewusstseins (Cittamatra)

17: Stufenweise Erkenntnis der Leerheit 4: Der Mittlere Weg (Madhyamaka)

18: Die Natur des Geistes - Leerheit und Klarheit untrennbar ( Shentong )

19: Leerheit praktisch 1: Shamata und Vipassana

20: Leerheit praktisch 2: Zen-Meditation

Hör mal rein, auch, wenn es etwas Zeit kostet, die Vorträge sind wirklich gut.

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Von Experte Buddhismus bestätigt

Das ist die Ansicht des Buddhismus generell – nicht nur des Zen-Buddhismus:

Wir nehmen eine Realität wahr. Deshalb gibt es sie. Das lässt sich schlecht leugnen. Sie ist aber letztlich anders, als wir sie wahrnehmen. Das liegt an Vielem. Wenn wir andere Sinnesorgane hätte – wie Fledermäuse, Schlangen oder Insekten – dann würden wir die Welt anders wahrnehmen. Sie wird aber auch gefärbt von dem, was wir gelernt haben, von unseren Vorstellungen und Konzepten. Dass wir die Welt nicht so wahrnehmen, wie sie letztendlich wirklich ist, heißt Verblendung. Was wir wahrnehmen ist eine relative – also eine bedingte – Realität. Es heißt auch, diese Realität ist traumgleich, weil sie uns real erscheint, es aber letztlich nicht ist.

Wie die Realität wirklich ist – also ohne unsere verblendete Wahrnehmung – kann man durch langes Üben, Anleitungen von Menschen, die diesen Zustand kennen und Techniken wie Meditation erfahren. Dann spricht man auch von einem nicht-dualen Zustand, einem Zustand, in dem es die Unterscheidung zwischen dem Ich und Anderem nicht mehr gibt. Diese Realität, die der nicht verblendete Geist erfahren kann, ist dann die absolute Realität, als die Realität, die nicht mehr abhängig ist von individuellen Vorstellungen und Sinnesorganen.

Also: Die relative Welt ist nicht das Universum, das sich selbst wahrnimmt. Sie gibt es in dieser Form gar nicht. 

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – 30 Jahre Belehrungen tibetischer Buddhismus; Zen
Angulimala1610 
Fragesteller
 24.06.2023, 19:12

"Das ist die Ansicht des Buddhismus generell – nicht nur des Zen-Buddhismus:"

Hat der Buddha die zwei Wahrheiten gelehrt? Ich hab eigentlich im Theravada-Buddhismus noch nichts davon gehört ...

Weißt du, ob nur im (Soto-) Zen Shikantaza praktiziert wird?

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tomo1946  25.06.2023, 01:12
@Angulimala1610

Das ist eine der grundlegenden Lehren des Buddha, dass die Realität, die wir kennen, traumgleich ist. Shikantaza sagt mir nichts.

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Angulimala1610 
Fragesteller
 25.06.2023, 16:00

"Diese Realität, die der nicht verblendete Geist erfahren kann, ist dann die absolute Realität, als die Realität, die nicht mehr abhängig ist von individuellen Vorstellungen und Sinnesorganen."

Also: Die relative Welt ist nicht das Universum, das sich selbst wahrnimmt. Sie gibt es in dieser Form gar nicht. 

Im Zen-Buddhismus wird gelehrt es gibt beide Realitäten. Sie sind wie die Seiten einer Münze. Sie gehören zusammen und sind gleich viel wert. Die absolute und die relative Wahrheit.

Da du die Welt immer mit deinen Sinnen wahrnehmen wirst - selbst in der tiefsten Versenkung - kannst du dich der absoluten Wahrheit auch nur annähern. Wie willst du denn die Welt ohne deine Sinne wahrnehmen.

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tomo1946  25.06.2023, 20:52
@Angulimala1610

Es geht nicht um die Frage, ob es die beiden Realitäten gibt. Das wird nicht bezweifelt. Es geht um den Charakter der relativen Wahrheit.

Es gibt tatsächlich eine Wahrnehmung, die über die Sinne hinaus geht. Das ist das, was auch im Zen-Buddhismus "unmittelbare Wahrnehmung" genannt wird.

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Angulimala1610 
Fragesteller
 25.06.2023, 20:55
@tomo1946

"Es gibt tatsächlich eine Wahrnehmung, die über die Sinne hinaus geht. Das ist das, was auch im Zen-Buddhismus "unmittelbare Wahrnehmung" genannt wird."

Okay, das geht da jetzt scheinbar sehr ins "religiöse", weil man kann ja nur mit seinen Sinnen wahrnehmen. Wie sollte es eine Wahrnehmung geben, die über die Sinne hinaus geht?

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tomo1946  25.06.2023, 21:04
@Angulimala1610

Das kann man "religiös" nennen. Es geht um das letztendliche Ziel nicht nur des Zen-Buddhismus. Diese Erfahrung heißt im Zen "Satori". Man spricht auch von einem nicht-dualen Zustand. Das ist ein Zustand, in dem der Unterschied zwischen dem Ego und dem "Anderen" aufgehoben ist. Das ist in der Tat ziemlich schwer zu verstehen und zu erreichen.

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Angulimala1610 
Fragesteller
 25.06.2023, 21:08
@tomo1946

Du wirst nie einen Zustand erreichen, wo du nicht mehr über deine Sinne wahrnimmst. Weil das ja gar nicht geht.

Womit willst du denn wahrnehmen, wenn nicht mit deinen Sinnen?

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