Alles, was Du beschreibst, passt so sehr wie die Faust aufs Auge… wie man so sagt.
Erst einmal, als Älterer warst Du zunächst ein Einzelkind. Kommt dann ein Geschwister, dann geht das für ein Kind meistens mit einer radikalen Änderung einher: Plötzlich braucht das Geschwisterkind (zunächst einmal) die größere Aufmerksamkeit. Zugleich geht das immer auch mit Verantwortung einher, denn ein jüngeres Kind ist nicht unkaputtbar wie ein Legostein, sondern das ältere Kind muss sofort lernen, vorsichtig und achtsam mit dem Geschwisterkind umzugehen.
Und nun kommt für Dich hinzu, dass Dein Bruder als Autist NOCH mehr Aufmerksamkeit der Eltern aufgesogen hat bzw. noch aufsaugt. In den USA nennt man die Geschwister von (körperlich oder geistig) beeinträchtigten Kindern auch "Glaskinder" – weil sie nicht oder weniger gesehen werden. – Die Bezeichnung als Glaskind ist insoweit natürlich etwas krass. Das kommt nämlich ganz darauf an, wie die Eltern auf die Situation eingehen. Dennoch bleibt: Die größere Aufmerksamkeit genießt immer jenes Kind, das der größeren Fürsorge bedarf.
Dass Dein Bruder mehr Aufmerksamkeit bedarf, heißt aber nicht, dass Deine Eltern Dich weniger wertschätzen, Du ihnen weniger wert seist. Ich lese aus Deinen Ausführungen da eher das Gegenteil. Insoweit: Mach keine Dramen daraus, aber spich es offen an, offen aus – und sage offen, was Du (über Dich und Deine Situation) vor allem FÜHLST, aber auch denkst.
Mache sowohl Deinen Eltern als auch Deiner Freundin klar, dass es Dir wichtig ist, darüber offen sprechen zu KÖNNEN. Das heißt nicht, dass Du sie damit fortan ständig zuquatschen musst. Sondern es heißt, dass es möglich sein sollte, offen über Deine Gefühlsregungen und Gedanken zu sprechen. Keine Tabus, das ist wichtig. Das GEFÜHL, dass es Sprech- oder gar Denk-Verbote gäbe, wäre fatal (für Dich selbst ebenso wie für Dich in der sozialen Relation, also in Deinen Beziehungen zu Eltern, Freunden und konkret Freundin). – Vor allem aber bist Du selbst hier gefragt und herausgefordert. Denn Du kannst nicht von Deinen Mitmenschen therapeutische Leistungen erwarten. Und vor allem: Vieles von dem, vllt mit der Zeit, mit den Jahren ALLES, was Du daran hier & jetzt als Problem siehst, kann sich auch sinnvoll relativieren, als Problem auflösen, ohne dass Du professionelle therapeutische Hilfe in Anspruch nimmst. Das geht aber nur, wenn Du bereit bist, der offenen Auseinandersetzung mit Dir und Deiner Situation Zeit + Aufmerksamkeit zu widmen. (Diese Mühe musst Du so oder so auf Dich nehmen: Zu einem Therapeuten zu gehen, heißt ja nicht, dass jemand anders Dir Deine Probleme abnimmt oder auflöst. Sondern auch dann geht es nur um ein Augenöffnen! Klar, eine Komponente der prof. Hilfe ist es auch, dass Du begleitet bist, etwaig aufgefangen, oft auch geführt wirst. Aber so etwas birgt auch die Gefahr, dass Du eben DOCH der aufreibenden Auseinandersetzung mit Dir selbst ausweichst! Professionelle therapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, heißt nie, diese Hilfe wie eine Pille zu schlucken, auf dass die Probleme mit einem Fingerschnippen weg seien.)
Es geht nicht um landläufiges Selbstbewusstsein, mit dem Du durchs Leben gehen solltest und kannst, sondern es geht um eine selbst-BEWUSSTE Wahrnehmung Deiner selbst.