Zivilisationsbruch?

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Mit dem Begriff "Zivilisationsbruch" soll suggeriert werden, die (deutsche) Gesellschaft sei vor 1933 mehr oder weniger "zivilisiert" gewesen, aber dann habe es mit der Machtergreifung der Nazis einen nicht erklärbaren Bruch mit der "humanistischen", "christlichen", "demokratischen" usw. Zivilisation hin zur Barbarei gegeben habe. Damit ist der Begriff in doppelter Weise affirmativ: Erstens wird so getan, als hätten sich die "zivilisierten" Menschen vorher und nachher "zivilisiert" verhalten, nur unterbrochen von einer Art "Ausnahmezustand". Zweitens wird so getan, als habe der Nationalsozialismus und seine Verbrechen mit der kapitalistischen Gesellschaft, die vorher und nachher bestand, gar nichts zu tun. Beides ist falsch und Geschichtsverfälschend. Zwar sind die NS-Verbrechen in ihrem Ausmaß singulär. Trotzdem waren sie nicht ein "Einbruch der Barbarei" in eine "zivilisierte Gesellschaft. Die kapitalistische Gesellschaft war auch vorher schon blutrünstig, brutal und unzivilisiert. Man muss sich nur mal die Grausamkeiten des ersten Weltkriegs (Giftgas-Krieg) anschauen oder den Völkermord, den das Deutsche Reich in den afrikanischen Kolonien verübte. Und sind die heutigen westlichen Gesellschaften etwa "zivilisiert" mit den Kriegen in Vietnam, Jugoslawien, Libyen? Gesellschaften, die Flüchtlinge, Frauen und Kinder im Meer ertrinken lassen? Die den Griechen das Geld sperrt, so dass dort viele alte und kranke Menschen sterben mussten, weil sei sich keine Medizin mehr leisten konnten? Das reicht zwar alles nicht an die NS-Verbrechen heran, zeigt aber, dass der Kapitalismus alles andere als eine zivilisierte Gesellschaft darstellt. Richtigerweise ist der NS daher auch als Frucht der kapitalistischen "Zivilisation" zu begreifen, nicht etwa als ihr Gegenteil. In diesem Sinne haben bereits die deutschen Soziologen Adorno und Horckheimer in ihrem bekannten Werk "Dialektik der Aufklärung" ausgeführt, dass der Faschismus nicht etwa die "Errungenschaften der Aufklärung" auf den Kopf gestellt hat, sondern ganz im Gegenteil die auf die Spitze getriebene kalte Konsequenz dieser "Aufklärung" ist. Der Begriff "Zivilisationsbruch" erweist sich daher als ein Begriff, der zwar dauernd ohne Nachzudenken nachgeplappert wird, aber eigentlich eine Geschichtsklitterung ist.

Hab es vorher noch nicht gehört. Gehe aber mal im Zusammenhang mit dem Holocaust davon aus, das die Bevölkerung bzw. Zivilisation nur zugeschaut hat. Die Zivilisation hat einfach einen Teil ihrer selbst wegbrechen lassen. Und somit mit sich selbst gebrochen.

Da steht doch nicht nur der bloße Begriff, sondern auch entsprechend der Kontext...:-)

Der HC stellt insofern einen Zivilisationsbruch dar, als er Menschen, also Juden, Sinti und Roma, Slawen, als grundsätzlich minderwertig ansieht, ihnen Humanität abspricht, sie nicht nur begrifflich auf eine Stufe mit Ungeziefer stellt, sondern sie praktisch auch wie dieses als auszurottend betrachtet und die Ausrottung dieser Menschengruppen auch systematisiert und unter Zuhilfenahme industriemäßiger Mittel und Methoden betreibt.

Das ist in der Entwicklungsgeschichte menschlicher Zivilisationen schon ein recht singuläres Phänomen...


Roland Sperling  04.02.2020, 01:24

Das ist aber kein "Zivilisationsbruch". Rassismus gehört seit den Geburtsstunden des Kapitalismus im 16. Jahrhundert zu den immer wiederkehrenden Begleiterscheinungen des Kapitalismus. Immanuel Kant z.B., einer der bedeutendsten Vertreter der "Aufklärung", war ein lupenreiner Rassist, der die "Neger" als minderwertige Rasse ansah. Auch Judenprogrome waren nicht neu. "Neu" war die durchgeplante "effiziente" Art und Weise, Mlllionen zu töten. Diese betriebswirtschaftliche Effizienz ist aber selber ein Produkt des Kapitalismus.

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atzef  04.02.2020, 07:05
@Roland Sperling

Der "Zivilisationsbruch" ist ja nicht auf meinem Mist gewachsen, sondern geht auf Dan Diner und Jürgen Habermas zurück. Persönlich würde ich der Zivilisationsbruchthese keine so große Bedeutung beimessen, halte sie aber für sehr plausibel und hinreichend begründet.

Bei dir ist mir die Motivation nicht klar, sie zu bestreiten, wo du doch - kritisch gelesen - selber ihre Plausibilität beweist...:-)

Denn natürlich ist "Rassismus" keine genuine Erscheinung des Kapitalismus!

Vielmehr ist "Rassismus" ein prämodernes Konzept, das verschiedenen, eben prämodernen Ideologieformen wie dem Konservatismus, zu eigen ist. Rassismus erwächst aus Gesellschaften, die systematisch menschliche Ungleichwertigkeit formalisiert festschreiben und weiter tradieren . Sklavenhaltergesellschaft und Feudalismus.

Der Kapitalismus wiederum trifft mit seinem naturrechtlich begründeten Postulat der formalen Rechtsgleichheit aller Menschen diesen Rassismus in Mark und Bein und schafft damit grundlegende gesellschaftliche Strukturen und Wertordnungen, die den Rassismus systematisch überwinden. Nebenbei offensichtlich auch radikaler und konsequenter als der der Pseudosozialismus.

Aber selbst der landläufige Rassismus in seinen schlimmsten Erscheinungsformen als Sklavenhalterei oder Apartheid besitzt ja noch ein Rest an mitmenschlicher Solidarität und Achtung vor dem menschlichen Leben als solchem! Und genau die geht in Gestalt der nationalsozialistischen, industriemäßig betriebenen Massenvernichtung von Juden, Sinti und Roma und Slawen schlicht über Bord. Daher halte ich die Zivilisationsbruchthese, die auf die überhistorische Dimension der Naziverbrechen hinweist, für völlig nachvollziehbar.

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Roland Sperling  04.02.2020, 08:13
@atzef

Das lässt sich natürlich alles auf dieser Plattform nicht ausdiskutieren. Ich bin aber schon der Meinung, dass man den Rassismus, der in der kapitalismuseigenen Universalkonkurrenz aller Menschen wurzelt, nicht mit vorausgegangenen Formen gruppenbezogener Diskriminierung unterscheiden kann. Wenn die Völker in der Antike Krieg gegeneinander geführt haben, war das nicht mit einer generellen Herabsetzung des Gegners als Mensch verbunden. Auch der Antisemitismus hat sich unter dem Kapitalismus gewandelt. Der Kapitalismus macht eben alle menschen nur insoweit gleich, als sie ihm als Arbeitskräfte gelten.

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Roland Sperling  04.02.2020, 08:17
@atzef

Das mit dem Pseudosozialismus ist natürlich richtig. Schlimmer noch: Dieser Pseudosozialismus bedient teilweise dieselben Argumentationslinien wie der Faschismus. Allerdings ist der Unterschied, dass ihn da meist nicht bewusst ist und er sich subjektiv als den zivilisatorischen Gegenpol zum Faschismus imaginiert.

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