Welche Tugenden sind wofür (Aristoteles)?

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Nach Auffassung von Aristoteles helfen die ethischen Tugenden/Charaktertugenden/ Vortrefflichkeiten des Charakters (griechisch: ἀϱεταὶ ἠθικαί [aretai ethikai]) bei der Kontrolle der Affekte (Leidenschaften) durch Ausrichtung auf die richtige Mitte, das in einer Lage für jemand angemessene Verhalten.

Beim richtigen Einsetzen des Verstandes helfen die dianoetische Tugenden/Verstandestugenden/Vortrefflichkeiten des Verstandes (griechisch: ἀϱεταὶ διανοηϑικαί [aretai dianoetikai]).

ethische Tugenden/Charaktertugenden/Vortrefflichkeiten des Charakters allgemein

Aristoteles versteht die ethischen Tugenden/Charaktertugenden/Vortrefflichkeiten des Charakters als richtige Mitte (griechisch: μεσότης [mesotes]), die zwischen einem Zuviel (griechisch: ὑπεϱβολή [hyperbole]; Übertreibung/Übermaß) und einem Zuwenig (griechisch: έλλειψις [elleipsis]; Zurückbleiben/Mangel) liegt. Sie werden durch Einübung/Gewöhnung erworben/ausgebildet. Sie sind Einstellungen, die das Richtige treffen und in Gegensatz zu jeweils zwei Extremen (Extrem des Zuviel und Extrem des Zuwenig) stehen, die Glück (das Ziel eines guten Lebens) verfehlen und schlecht sind.

Wie Aristoteles erläutert, ist die Mitte zugleich unter dem Gesichtspunkt des Guten/Wertes das Äußerste/Höchste. Die Mitte bei ethischen Tugenden/Charaktertugenden/Vortrefflichkeiten des Charakters ist nicht mit Durchschnittlichkeit und Mittelmäßigkeit zu verwechseln. Sie hat nicht einfach immer einen quantitativ gleichen Abstand zu den Extremen. Die Mitte bei der Charaktertugend ist auf die jeweilige Person und Situation bezogen. Die Mitte ist das Angemessene.

Die Mitte ist von richtiger Überlegung bestimmt und entspricht der Klugheit/praktischen Vernunft (verbindet ein Wissen über allgemeine Prinzipien mit umsichtiger und geschickter Anwendung im Einzelfall).

Nach Auffassung von Aristoteles sind ethische Tugenden/Charaktertugenden/Vortrefflichkeiten des Charakters (vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik 2, 5 – 9 [allgemein über die richtige Mitte in der Ethik]; 3, 9 – 15 und 4, 1- 15 [einzelne Tugenden]; 5 [Gerechtigkeit]) feste innere Haltungen/Einstellungen, aus denen heraus Menschen gut handeln. Sie haben einen Bezug zu Affekten (Leidenschaften), die mit Lust und Schmerz verbunden sind.

einzelne ethische Tugenden/Charaktertugenden/Vortrefflichkeiten des Charakters bei Aristoteles, Nikomachische Ethik

  • Tapferkeit (griechisch: ἀνδρεία [andreia])
  • Besonnenheit/Mäßigung (griechisch: σωφροσύνη [sophrosyne])
  • Großzügigkeit/Freigiebigkeit (griechisch: ἐλευθεριότης [eleutheriotes])
  • Großgeartetheit/stilvoller Sinn für Größe (griechisch: μεγαλοπρέπεια [megaloprepeia])
  • Hochsinnigkeit/Seelengröße (griechisch: μεγαλοψυχία [megalopsychia])
  • (gesunder/vernünftiger) Ehrgeiz (in der altgriechischen Sprache steht Aristoteles kein eigener Begriff neben φιλοτιμία [philotimia] zur Verfügung, der auch (ungesunden/unvernünftigerEhrgeiz/Geltungssucht bezeichnen kann)
  • Sanftmut (griechisch: πραότης [praotes])
  • Wahrhaftigkeit/Ehrlichkeit/Aufrichtigkeit (griechisch: ἀλήθεια [aletheia])
  • gesellschaftliche Gewandtheit/humorvolle Witzigkeit (griechisch: εὐτραπελία [eutrapeleia])
  • Freundlichkeit (griechisch: φιλία [philia])
  • Schamgefühl/taktvolles Feingefühl/rücksichtsvolle Scheu (griechisch: αἰδώς [aidos])
  • (berechtigte) Entrüstung/Empörung (griechisch: νέμεσις [nemesis])
  • Gerechtigkeit (griechisch: δικαιοσύνη [dikaiosyne])

dianoetische Tugenden/Verstandestugenden/Vortrefflichkeiten des Verstandes allgemein

Bei dianoetischen Tugenden/Verstandestugenden/Vortrefflichkeiten des Verstandes ist ein Höchstmaß am besten. Es gibt keine Steigerung, bei der es zu einem falschen Extrem kommt.

einzelne dianoetische Tugenden/Verstandestugenden/Vortrefflichkeiten des Verstandes

Aristoteles, Nikomachische Ethik 6, 1 - 13 untersucht als dianoetische Tugenden/Verstandestugenden/Vortrefflichkeiten des Verstandes:

  • Kunstfertigkeit/Technik (griechisch: τέχνη [techne])
  • Klugheit/praktische Vernunft (griechisch: φρόνησις [phronesis])
  • Vernunft/Geist (griechisch: νοῦς [nous])
  • Weisheit (griechisch: σοφία [sophia])
  • Wohlberatenheit (griechisch: εὐβουλία [euboulia])
  • Verständigkeit (griechisch: σύνεσις [synesis])
  • Einsicht/Urteilskraft in Bezug auf das Billige (griechisch: γνώμη [gnome]) und ihr Verhältnis zueinander
Anonymaus69 
Fragesteller
 24.10.2021, 13:05

Kann man also sagen, dass die ethische Tugenden aus der Steuerung des affektiven Teils der Seele ausgehen. Und diese Steuerung erfolgt durch die dianoetischen Tugenden (hier durch Klugheit), welche von der Vernunft ausgehen?

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Albrecht  24.10.2021, 13:20
@Anonymaus69

Eine ethische Tugend ist eine bestimmte feste innere Haltung/Einstellung (griechisch: ἕξις [hexis]) der Seele und durch vernünftige Überlegung geleitet. Gesteuert werden die innere Haltung/Einstellung, die Affekte und das Handeln. Die Steuerung ist von der dianoetischen Tugend der Klugheit/praktischen Vernunft (griechisch: φρόνησις [phronesis]) bestimmt.

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Anonymaus69 
Fragesteller
 24.10.2021, 13:36
@Albrecht

Okay, verstehe. Danke für die ausführliche Antwort!

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