Warum will Bildungspolitik nicht aus Erfahrung lernen?

HarmonyZ  06.07.2023, 20:59

Was genau ist jetzt dein Problem?

grtgrt 
Fragesteller
 07.07.2023, 09:38

Was mich stört ist, dass gegenwärtige Bildungspolitik zunehmend schneller ein Bildungssystem demoliert, das bis mindestens 1990 weit erfolgreicher war als das gegenwärtige.

1 Antwort

Moin,

willkommen in meiner Welt...

Ein Problem scheint mir hier zu sein, dass sich wieder einmal Gutmenschen mit Wirtschaftsmenschen zusammen getan haben (dabei kommt nur selten Gutes heraus).

Die einen meinen, dass jeder Mensch Abitur bekommen soll. Wohlgemerkt: Ich finde es richtig, dass Chancengleichheit geschaffen werden sollte, aber in der Praxis wird daraus leider allzu oft, dass das Niveau herabgesetzt wird, damit alle Abitur machen können. Irrsinn. Chancengleichheit und Chancenausgleich bedeuten doch nicht Herabstufen von Ansprüchen. Doch genau das passiert.
Die anderen haben wirtschaftliche Interessen. Sparen an der schulischen Ausbildung einerseits, Verkauf von digitalen Endgeräten andererseits. Das füllt die Kassen der Medienlieferanten und spart an intensiverer Bildungsbetreuung.

Und dann wundern sich die Leute, dass Menschen mit Abitur im realen Leben keinen Satz geradeaus schreiben, denken oder formulieren können. Dass keine sicheren Rechnungen durchgeführt werden können und dass keinerlei Leistungs- und Arbeitseinsätze mehr abverlangt werden können. Die digitale Welt machte es in der Schule ja so einfach: Wikipedia, ChatGPT und Co. lassen grüßen. Der Status in sozialen Medien ist wichtiger, als das Verstehen oder Lösen von sozialen Problemzusammenhängen und die Kommunikation über SMS oder - noch wortärmer - über Bilder (!) tun dann ihr übriges.
Dann beschweren sich Ausbildungsbetriebe oder die Unis (nicht zu unrecht), dass aus der Schule überwiegend „Schrott” angeliefert wird, der eine allgemeine Hochschulreife bescheinigt bekommen hat, aber die meisten Studienabbrüche produziert oder bei Ausbildungen völlig unzureichende Leistungen abliefert.

Wie gesagt, die Gesellschaft ist seit Jahren auf einem bedenklichen Irrweg. Aber was willst du machen? In den Gremien und Schulbehörden sitzen leider überwiegend Leute, die von Schule und Schulalltag praktisch keine Ahnung haben. Erbsenzähler:innen, Schulversager:innen (ich meine Leute, die schnell gemerkt haben, dass sie im Schulalltag untergehen würden und deshalb nach ein, zwei Schuljahren in die Behörde wechseln und jetzt meinen zu wissen, wie Schule geht) oder Lobyisten:innen, die eigene Interessen verfolgen und denen der Alltag an Schulen sch...egal ist, das sind die Leute, die Schule regeln... Was soll da schon herauskommen.

Und dann gibt es ab und zu Leute, die das Ganze durchaus durchschauen, aber die dann die Sache instrumentalisieren, um ihre Haltung oder persönliche Interessen durchzudrücken.

Es ist eben viel einfacher, eine Digitalisierung voranzutreiben und dadurch von den eigentlichen Problemen abzulenken, als sich mit den wahren Problemen zielorientiert auseinanderzusetzen.

Tja, und wenn es dann doch einmal richtig schief läuft, dann werden die Noten heraufgesetzt. Dann scheinen alle zufrieden gestellt zu sein, dann halten alle die Füße still, dann bleibt alles, wie es ist.

Ich weiß nicht, ob es da Sachzwänge gibt, die eine echte Reform verhindern (wahrscheinlich ist es so), und ich weiß auch nicht, ob ich wirklich geeignete Methoden hätte, um Wichtiges wirkungsvoll zu verändern, aber ich bin mir sicher, dass es heute seeehr viele Menschen mit Abiturbescheinigung die Schule verlassen, die es zu meiner Zeit nicht geschafft hätten.

Versteh mich nicht falsch: Ich möchte nicht so rüberkommen, als würde ich wie Don Quixote gegen Windmühlen kämpfen würde. Ich bin Teil des Systems. Ich mache da mit. Ich habe auch eine gewisse Beißhemmung bei der Verteilung von schlechten Noten, weil ich nicht einsehe, die Zukunft von Jugendlichen zu verbauen, weil wir alle Opfer der modernen Welt sind. Insofern bin ich mit Schuld an der Entwicklung... Doch ich gebe dir recht, dass die Zustände eigentlich untragbar sind. Ist das schon schizophren...?

LG von der Waterkant

Dampfschiff  07.07.2023, 08:00

Ich hätte die gegenwärtigen Zustände nicht besser beschreiben können. Ergänzen möchte ich die eine oder andere Idee, wie die Sache besser zu machen wäre:
- junge Kinder lernen am menschlichen Gegenüber. Kinder bis einschließlich Grundschulalter sollten so wenig wie möglich fernsehen, überhaupt keine Computerspiele spielen, auf keinen Fall ein eigenes Smartphone haben (meinetwegen ein einfaches Tastenhandy, um Mama und Papa mal anrufen zu können). Digitale Medien aller Art haben in Kindergarten und Grundschule nichts verloren. Stattdessen braucht es intensive, individuelle Betreuung jedes einzelnen Schülers. Ganz besonders bei denjenigen, die vom Elternhaus keine so gute Unterstützung bekommen. Schulischer Erfolg hängt in Deutschland viel zu sehr vom Elternhaus ab. Ich kann mir vorstellen, dass man dafür speziell in der Grundschule viel kleinere Klassen und viel mehr Lehrer bräuchte. Natürlich kostet das zusätzliches Geld. Geld, was für die zukünftige Entwicklung in unserem Land gut investiert wäre.
- Jugendliche (also Schüler in der Mittelstufe) brauchen Orientierung, eine sichere Umgebung, einen "schützenden Hafen" wenn es Probleme gibt, Herausforderungen, Möglichkeiten sich selbst zu beweisen, Erfolgserlebnisse, und Strategien zum Umgang mit Hindernissen und Misserfolgen. Zusätzlich zu einem fachlich guten Unterricht. Das klappt an manchen Schulen recht gut, an anderen überhaupt nicht. Meines Erachtens müsste es eine Pflichtaufgabe der Schulen sein (die dafür auch die nötigen Ressourcen zur Verfügung haben müssen!), bei absolut jedem Schüler besondere Talente frühzeitig zu entdecken und gezielt zu fördern (auch solche, die nicht im Lehrplan stehen !!!), und andererseits Schwierigkeiten (fachliche, soziale und gesundheitliche) frühzeitig zu entdecken und schnell und entschlossen solange mit intensivster Betreuung zu behandeln, bis das Problem VOLLSTÄNDIG bewältigt ist. Das nicht-Erkennen eines besonderen Talents, und das nicht-Erkennen einer besonderen Schwierigkeit, müssten als Betriebsunfall in der Schule eingestuft werden, das mangelnde individuelle Fördern müsste als unterlassene Hilfeleistung eingestuft werden.

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