War die Paulskirchenverfassung ein fortschrittlicher Kompromiss?
2 Antworten
Für die damaligen Verhältnisse ist diese Verfassung ein ziemlich fortschrittlicher Kompromiss gewesen.
Die von der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche am 28. März 1849 beschlossene Reichsverfassung (Verfassung des deutschen Reiches) ist im Zusammenhang mit der vom Volk ausgehenden Revolution 1848/1849 entstanden. Aufgrund der Niederlage der Revolution konnte sie nicht in der Realität durchgesetzt werden. Die Verfassung von 1849 ging von der Nationalversammlung, einem im Zug einer Revolution gewähltem Parlament, aus und konnte aufgrund von Kompromissen zwischen mehreren Gruppen in der Nationalversammlung mit Mehrheit beschlossen werden. Liberale bekamen durch Zugeständnisse die Zustimmung der gemäßigt linken demokratischen Fraktion Westendhall um Heinrich Simon für eine »kleindeutsche Lösung« (also ein deutscher Nationalstaat mit Preußen, aber ohne Österreich) mit erblicher Monarchie des Königs von Preußen.
Nichts gundsätzlích Neues war der föderalistische Staatsorganisation (Bundesstaat). Es gab einen Gesamtstaat (dessen Recht in seinem Zuständigkeitsbereich höher stand als das Recht einzelner Länder) mit einer regierenden Leitung auf Bundesebene und eine Reihe von Einzelstaaten, die einige Selbständigkeit und eigene Befugnisse hatten.
Fortschrittlich war damals sicherlich das Wahlrecht (ein Zugeständnis an die Demokraten): Es gab für männliche Staatsbürger mit einem Mindestalter von 25 Jahren allgemeine, unmittelbare/direkte, freie, gleiche und geheime Wahl der Abgeordneten im Parlament (§ 94 der Verfassung und Reichswahlgesetz vom 12. April 1849).
Es waren eine konstitutionelle Monarchie (erbliche Monarchie mit einem Kaiser als Staatsoberhaupt) und eine parlamentarische Demokratie vorgesehen.
Es gab Gewaltenteilung mit den unterschiedenen Staatsgewalten Legislative (gesetzgebende Gewalt/Macht), Exekutive (ausführende/vollziehende Gewalt/Macht) und Judikative (rechtsprechende Gewalt/Macht).
Dies war der Verfassung von 1849 mit der Verfassung von 1871 gemeinsam, ebenso viele Befugnisse des Kaisers, z. B. Ernennung und Entlassung der Reichsminister (1849) bzw. des Reichskanzlers), militärischer Oberbefehl, völkerrechtliche Vertretung des Reiches, Erklärung von Krieg und Frieden und Abschließen von Bündnissen und Verträgen (unter Mitwirkung des Reichstages bzw. des Bundesrates und des Reichstages), Einberufung und Schließung des Reichstages und vorübergehende (1849: höchstens 3 Monate 1871: höchstens 90 Tage) Auflösung des Volkshauses (1849) bzw. des Reichstages (1871), Gültigkeit von Regierungshandlungen des Kaisers nur bei Gegenzeichnung durrch einen Reichsminister (1849) bzw. den Reichskanzler (1871) und Volksvertretung durch ein Parlament (Reichstag).
Die Verfassung von 1849 enthielt einige Unterschiede zur Verfassung des Deutschen Reichs vom 16. April 1871 und war darin im Vergleich zu dieser meist fortschrittlich.
Unterschiede
- Aufbau der gesetzgebenden Gewalt: In der Verfassung von 1849 lag die Gesetzgebung beim Reichstag (außerdem hatten Kaiser und Reichsminister ein Initiativrecht für Gesetze). Dieser bestand aus einem gewählten Volkshaus und einem Staatenhaus mit Vertretern der Länder (teils von den Regierungen ernannt, teils von den Parlamenten der Einzelstaaten gewählt). Es gab also ein Zweikammersystem und zu Reichsgesetzen war eine Zustimmung beider Kammern erforderlich. In der Verfassung von 1871 gab es den gewählten Reichstag (als Parlament mit einer Kammer) und als Vertretung der Länder den Bundesrat (Vertreter von den Regierungen ernannt). Eine Zustimmung des Bundesrates zu Reichgesetzen war erforderlich.
- Ausmaß der Kontrolle der Regierung durch das Parlament: In der Verfassung von 1849 gab es verantwortliche Reichsminister, wobei nicht ausdrücklich bestimmt war, wem gegenüber und wie diese genau verantwortlich waren. Die Regierung war rechenschaftspflichtig und die Reichsminister konnten vom Reichstag beim Reichsgericht angeklagt werden (§ 126. i) Strafgerichtsbarkeit über die Anklagen gegen die Reichsminister, insofern sie deren ministerielle Verantwortlichkeit betreffen.). In den Einzelstaaten waren die Minister der Volksvertretung verantwortlich (§ 186). In der Verfassung von 1871 hatte der Reichstag auch Mitspracherechte (vor allem Gesetzgebung und Haushaltsbewilligung), aber nur schwächere Kontrollmöglichkeiten. Eine Anklage der Regierung war nicht möglich. Es gabn keine volle parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung/des Reichskanzlers, weil der Reichstag ihnen kein Misstrauen aussprechen und sie nicht abwählen kann).
- herausgehobene Stellung eines Reichskanzlers: In der Verfassung von 1849 gab es mehrere Reichsminister, in der Verfassung von 1871 in der Reichsleitung einen übergeordneten Reichskanzler und ihm untergeordnet mehrere Staatssekretäre. Außerdem hatte der Reichskanzler auch noch den Vorsitz im Bundesrat.
- Grundrechte: Verfassung von 1849 enthielt einen umfangreichen Katalog von Grundrechten. Die Verfassung von 1871 enthielt dagegen keine Grundrechte, diese waren in den Verfassungen der Einzelstaaten festgelegt.
- Veto-Frage: Die Verfassung von 1849 enthielt ein suspensives (aufschiebendes) Veto der Reichsregierung (Kaiser und Reichsminister) gegen Reichstagsbeschlüsse (Ablehnung von Gesetzen durch den Kaiser hat nur befristet Wirkung und kann vom Reichstag nach einer gewissen Zeit durch erneuten Beschluss überstimmt werden), die Verfassung 1871 kein Veto, allerdings hatte er als König von Preußen die Möglichkeit, zusammen mit einigen anderen Monarchen über den Bundesrat Gesetzesveränderungen zu verhindern.
- Richterernennung: Nach der Verfassung von 1871 konnte der Kaiser die Richter am Reichsgericht ernennen.
Ja, wobei natürlich alles relativ ist.