Der zweite Satz ist leicht: "Du solltest mehr lernen."
Das Lernen oder der zum Lernen verfügbare Zeitraum ist noch nicht zu Ende, der Angesprochene hat also noch die Gelegenheit. "Nächste Woche ist diese schwierige Prüfung und schaust Serien? Du solltest mehr lernen!"
Beim ersten habe ich dagegen tatsächlich Schwierigkeiten. Wie Du sagst, "Du hättest mehr lernen sollen" wäre auf Englisch "You should have studied more". Aber das "supposed" drückt ja eine Erwartungshaltung von außen aus, die vorher schon da war.
Das ist schwer direkt ins Deutsche zu übersetzen, weil eine Passivkonstruktion ("Von Dir war erwartet worden, mehr zu lernen.") hier sehr unüblich wäre, ohne anzugeben, wer diese Erwartung hatte. So hätte vielleicht ein strenger Vater in den 1950ern gesprochen, der automatisch davon ausgeht, daß seine Erwartung natürlich die einzig maßgebliche ist.
Natürlich würde zum Beispiel klingen: "Du bist durchgefallen? Was hast Du denn für die Prüfung getan? Nur einmal das Buch durchgeblättert? Ich hatte erwartet, daß Du mehr lernst."
Plusquamperfekt übrigens, weil die Reihenfolge ja war Erwartung - Lernen - Prüfung (Die Erwartung war also schon da, bevor mit dem Lernen begonnen wurde.) und die Prüfung schon vorbei ist, also ist das Lernen Vergangenheit und die Erwartung Vorvergangenheit.
In anderen Fällen würde man es vermutlich ganz anders formulieren, zum Beispiel: "Die Prüfungsordnung geht davon aus, daß die Studenten zwei Wochen lang fünf Stunden täglich für diese Klausur lernen."
Wobei mir gerade einfällt, was Du vermutlich meinst. "Du solltest mehr lernen" kann im Deutschen tatsächlich eine Erwartungshaltung aus der Vergangenheit ausdrücken, allerdings würde man dazu noch etwas einfügen.
"Du hast schon wieder eine Fünf geschrieben? Du solltest doch mehr lernen! Das hatte ich Dir nach der letzten verhauenen Arbeit gesagt."
"Doch" als Modalpartikel drückt hier den Unterschied zwischen der Erwartung und dem tatsächlichen Handeln aus. Wichtig ist dabei, daß beim Sprechen das "mehr" betont wird. (EDIT: Oder das "lernen", wenn man betonen will, daß der Angesprochene stattdessen etwas anderes getan hat.)
Betont man nämlich das "doch", bezieht sich der Satz wieder auf die Zukunft. Angenommen, der Sprecher hat früher schon gesagt, der Angesprochene solle mehr lernen, der hat aber geantwortet, er tue schon genug und werde auch so bestehen:
"Nur noch eine Woche bis zur Prüfung und Du bist erst halb mit dem Stoff durch? Du solltest doch mehr lernen."
Au weia, so viel Antwort für so eine kurze Frage. Als Muttersprachler macht man sich oft gar nicht klar, wie kompliziert das Deutsche sein kann. Aber es zeigt wieder mal, daß es schwer ist, einen Satz isoliert zu betrachten. Oft macht erst der Kontext ihn verständlich.