Deine Angst kann man verstehen. Wenn ein Leiden sehr weit weg ist vom Kopf, z. B. wenn es am Fuß schmerzt, dann fühlt es sich zwar unangenehm an, aber selten nah und bedrohlich. Ein Leiden an den Ohren kommt uns (unserem Ich) aber sehr, sehr nahe. Durch die Nähe kommt es, dass an sich harmlose Dinge sehr schnell bedrohlich wirken.
Ohrenschmerzen, Ohrenentzündungen können sehr, sehr unangenehm sein. Aber normalerweise dauern sie nicht ewig. Mit Ohrgeräuschen ist das meistens auch so. Manche haben Sie nur Minuten, Stunden oder Tage. Es gibt aber leider auch Fälle, wo solche unangenehmen Ohrengeräusche eine sehr lange Zeit bleiben.
Viele Menschen haben irgendeine "Hauptkrankheit", die sie sehr lange beschäftigt. Der eine vielleicht Ess- oder Verdauungsstörungen, der andere bespielweise Probleme mit dem Knie oder mit dem Rücken, und wieder andere haben eben Tinitus. Oft müssen wir uns mit irgendeiner Hauptkrankheit lange auseinandersetzen. Wir können nun sagen: "Da hab ich einfach mal richtig Pech gehabt" (und mir aus Versehen dieses und jenes "geholt"). Dann sieht man es wie im Lotto, so nach dem Motto "manche erwischt es halt" (statistisch gesehen).
Andere sagen vielleicht: Das ist kein Zufall, das hat etwas mit mir und meiner Lebensweise zu tun, da mache ich Dinge falsch und achte nicht genügend auf die Bedürfnisse meines Körpers. In diesem Fall wird man die Krankheit auch als Signal des Körpers ansehen: Hilfe, bitte kümmere dich mehr um mich. Nimm bitte Rücksicht auf mich. Es kann auch sein, dass Krankheiten ein Singnal an andere sind: Seht, mir geht es schlecht, bitte kümmert euch um mich (oder das Gegenteil: ich muss mich jetzt zurückziehen, bitte lasst mich in Ruhe).
Natürlich wünsche ich dir sehr, dass deine Ohrprobleme schnell wieder weg gehen. In den meisten Fällen wird das auch so sein. Falls die Probleme aber länger bleiben sollten, kann ich dir noch sagen, dass es weit aus schlimmeres gibt als Tinitus. Obwohl er sehr bedrohlich wirkt (weil so nahe am "Ich") ist er nicht lebensbedrohlich, nicht schmerzhaft, es schränkt die Bewegungsfähigkeit nicht ein. Er "nervt halt tierisch" und macht sich "ganz deutlich bemerkbar" und bereitet "extremen Stress". Ähnlich ergeht es Migräne-Patienten oder Menschen mit Zahnschmerzen. Man fühlt sich machtlos, ohnmächtig, ausgeliefert. Das heißt: Nein, man fühlt sich nicht so. Man ist machtlos. So wie dem Chef gegenüber, oder dem Lehrer, dem Schicksal oder Gott. Damit kann man lernen umzugehen. Oder: Damit sollte man lernen umzugehen. Wir Menschen sind halt manchmal machtlos, z. B. bei Hochwasser oder Sturm.
In manchen Fällen (z. B. bei Zahnschmerzen) gibt es ärztliche Hilfe. Wenn ein Tinitus z. B. auf Durchblutungsstörungen zurückzuführen ist, gibt es dagegen Medikamente. Es gibt aber auch Fälle, wie die Suche nach Medikamenten sehr lange dauert oder nicht erfolgreich ist. Manchen hilft ein Psychologe oder Autogenes Training, bei anderen wiederum eine Änderung im Lebensstil (mehr Sport, weniger Sport, andere Ernährung). Wir müssen öfter Lösungen finden und machmal können wir nur selber unseren Weg ganz alleine finden.
Im Ayurvda (östliches Gesundheitssystem) gilt ein Grundsatz, der lautet: Ein Patient soll selber sein Medikament finden, denn nur dann erreicht die Krankheit ihr Ziel, nämlich eine Änderung im Lebensstil. Es macht keinen Sinn, dem Patienten "auf die Schnelle eine Pille zu verschreiben", die das Leiden unterdrückt, weil er dann sein Leben nicht ändert. Dann muss sich der durch falsche Lebensweise leidende Körper andere Signale ausdenken. Wenn der Mensch nicht auf die kleinen Signale hört, werden diese das nächste mal größer und schlimmer. In diesem Sinne würde ich sagen: Sei froh, dass Tinitus noch ein "relativ harmloses Signal deines Körpers" ist. Es ist gut und richtig, dass Du es wahrnimmst und dir intensiv Gedanken machst.
Deine Angst wird nicht ewig bleiben. Zeitweise wird man von Angst gelähmt. Zeitweise sorgt sie für Rückzug und Vorsicht. Zeitweise aber ist sie auch ein Ansporn und macht kreativ, lässt einen nach Lösungen suchen. In diesem Sinn ist Angst auch "nützlich" und erfüllt ihre Aufgabe. Eine Kraft, die sich umwandeln lässt. Umwandeln in Aktionismus, in Wut, in Aggression (gegen sich oder andere) und am besten in kluges Handeln.
Falls der Tinitus länger bleibt, wären z. B. klug: ein Arzt, eine Änderung Deines Lebensstils, das Gespräch mit anderen Betroffenen.