Die verbreiteten Vorstellungen über die Sowjetunion sind vom fanatischen Antikommunismus des Kalten Kriegs geprägt und daher extrem einseitig.
Die Oktoberrevolution war als erste sozialistische Revolution ein historischer Meilenstein, stellte die alte Elitenherrschaft auf den Kopf und brachte nie zuvor gesehene soziale Errungenschaften mit sich.
Die Revolution kann nur vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs verstanden werden, in dem Millionen Soldaten sich gegenseitig abschlachteten und verstümmelten, weil die Kapitalisten der verschiedenen europäischen Großmächte sich über die Aufteilung ihrer Einflusssphären stritten. Im Hinterland bewirkte der Krieg einen massiven Mangel und Hunger, und diese Zustände führten zu immer größerer Sympathie für die Sozialisten, die als einzige politische Kraft für ein Kriegsende eintraten.
In Russland wurde die extrem repressive Zarendynastie zwar schon durch die Februarrevolution 1917 abgesetzt, aber das brachte der Masse der Bevölkerung keine echten Vorteile, da die Provisorische Regierung den Krieg fortsetzte und auf keine der Forderungen der Revolution einging.
Erst die Oktoberrevolution führte zum Ausscheiden Russlands aus dem Krieg und brachte eine ganze Reihe von Errungenschaften und Versuchen einer gerechten Gesellschaftsordnung mit sich. Die Bolschewiki veröffentlichten die Geheimabkommen der Entente über ihre Annexionsziele. Die Diskriminierung der nationalen Minderheiten, die etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmachten, wurde aufgehoben, und ihnen wurde der Zugang zu öffentlichen Ämtern und die eigenständige Verwaltung und das Reden und Schreiben in ihren jeweiligen Sprachen erlaubt. Adelstitel und die faktisch fortbestehende Leibeigenschaft wurden abgeschafft und der Großgrundbesitz unter den armen Bauern aufgeteilt. Der Arbeitstag in den Fabriken wurde auf acht Stunden reduziert und die Fabriken unter Kontrolle der Arbeiter gestellt. Frauen wurden rechtlich gleichgestellt und ihnen wurde das Scheidungsrecht zugestanden. Mit der Rätedemokratie wurde eine Form der Mitbestimmung etabliert, die weitaus zugänglicher und direkter als jedes bürgerliche Parlament war. Die Bevölkerung wurde alphabetisiert und ihr wurde der Zugang zu ehemals elitären Bibliotheken und Theatern ermöglicht. Der Staat und die Kirche wurden getrennt und der Schulunterricht säkularisiert. Die Menschen erhielten einen Anspruch auf Gesundheitsversorgung, Wohnraum und Arbeitsplätze.
Für die Masse der Bevölkerung waren das in der Tat erhebliche Verbesserungen ihrer Lage.
Dass letztendlich die Ziele der Revolution, eine vollständig klassenlose und egalitäre Gesellschaft zu errichten, nicht verwirklicht werden konnten, lag nicht an Fehlern oder am Egoismus der Revolutionäre, sondern an der objektiven Lage.
Die Oktoberrevolution war nie als auf Russland begrenzt vorgesehen, und ab 1918 breitete sich von Russland eine Welle von sozialistischen Erhebungen bis nach Westeuropa aus. In Deutschland und Österreich-Ungarn bewirkten diese die Abdankung der Monarchen, und vielerorts gab es Versuche, auch dort sozialistische Räteregierungen aufzubauen. Allerdings wurden diese Versuche in Finnland, dem Baltikum, Ungarn, Deutschland und Norditalien von der Konterrevolution im Blut erstickt. Lediglich Zugeständnisse wie der Achtstundentag und das Frauenwahlrecht konnten sich auf breiter Front durchsetzen.
Russland blieb damit das einzige sozialistische Land, und das unter denkbar schlechten Voraussetzungen, denn es war im Vergleich zu den übrigen europäischen Ländern das am technisch rückständigsten und am stärksten agrarisch geprägt. Durch die Verwüstungen des Weltkrieges konnte die Versorgung der Bevölkerung aus eigener Kraft nicht sichergestellt werden, und es kam zu Konflikten zwischen den Arbeitern in den Städten und den Bauern auf dem Land um die Verteilung von Getreide.
Dazu kam die Konterrevolution der Weißen Armee, die ein Gemenge aus monarchistischen, liberalen, ultranationalistischen und antisemitischen Ideen vertrat und durch die Intervention nicht weniger als 13 ausländischer Mächte unterstützt wurde. Der Bürgerkrieg mit den Weißen, die reihenweise Massaker an tatsächlichen und vermeintlichen Unterstützern der Kommunisten sowie an Juden begingen, verwüstete das Land weiter, und fand erst 1923 ein Ende.
Unter diesen Bedingungen sah sich die sowjetische Führung gezwungen, die Führung zu zentralisieren, mit der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) einige Zugeständnisse an die privatwirtschaftliche Akkumulation zu machen und einige der sozialen Errungenschaften zurückzunehmen.
Mit dem Sieg über die Weiße Armee im Bürgerkrieg war der Ausnahmezustand keineswegs überwunden. In den Fraktionskämpfen innerhalb der sowjetischen Führung kam Stalin an die Macht, der ab 1928 ein Programm der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Industrialisierung verfolgte, um die Selbstversorgung der Sowjetunion zu sichern und dem zunehmend feindseligen kapitalistischen Ausland gewachsen zu sein, insbesondere nachdem 1933 in Deutschland die Nazis mit dem erklärten Programm, die Sowjetunion zu vernichten und ihre Völker zu unterwerfen oder auszulöschen, an die Macht kamen.
Die Sowjetunion durchlief in den 30er Jahren diese Industrialisierung unter großen menschlichen Opfern, gelangte dadurch aber in die Position, dem militärisch und industriell viel stärkere Nazideutschland die Stirn zu bieten. Die Sowjetunion hatte im Zweiten Weltkrieg die meisten Opfer zu beklagen und hatte gleichzeitig von allen Alliierten den größten Anteil daran, die Nazis zu schlagen und damit auch den Holocaust in Osteuropa zu beenden.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kann man überhaupt von einer Normalisierung in der Sowjetunion sprechen, und nach einigen Jahren befand sie sich dann durch den Kalten Krieg im direkten Wettstreit mit dem gesamten kapitalistischen Block. Die sozialistische Planwirtschaft zeigte gerade hier ihr enormes Potenzial: Die Sowjetunion holte zu den kapitalistischen Nationen auf und entwickelte sich innerhalb von einer Generation von einem rückständigem Agrarland zur ersten Raumfahrernation.
Das undemokratische politische System, ein Erbe der Krisen der 20er und 30er Jahre, bestand in der Sowjetunion wohlgemerkt fort, aber es kam nie wieder zu einer Hungersnot oder Repressionen wie unter Stalin. Und der liberale Westen, der sich selbst für seine Demokratie der Reichen feierte, hatte nichts, was mit den sozialen Rechten in der Sowjetunion, etwa auf Gesundheitsversorgung und Wohnraum, vergleichbar gewesen wäre.
Die Auflösung des Sozialismus und die kapitalistische Restauration in den 90er Jahren wurde den Menschen mit dem Versprechen von mehr politischer Teilhabe und Freiheiten schmackhaft gemacht, bewirkte aber tatsächlich eine massive Versorgungskrise in ganz Osteuropa und die Wiederherstellung extrem ungleicher Eigentumsverhältnisse.