Ich habe wirklich überall nach einer Pro- und Contraliste gesucht bzgl. der Reichsgründung, leider nichts gefunden...
Das verwundert mich nicht. Denn im Grunde kann man eine solche Liste nicht erstellen, weil sie keinen historischen Wert hat. Denn nach welchen Kriterien und Vorstellungen soll man das Reich bewerten? Nach zeitgenössischen oder nach heutigen? Selbst die Zeitgenossen wären sich nicht vollkommen einig gewesen: die Deutschen in der Mehrheit wären "Pro" gewesen, die Franzosen, im Krieg besiegt, wären "Contra" gewesen. Insgesamt war die europäische Stimmung damals eher "Pro"! Nach heutigen, in der Schule vermittelten Anschauungen würde die Reichsgründung mehrheitlich als "Contra", nur von einer Minderheit als "Pro" bewertet, weil gerade die Schule und die Schüler nach modernen Anschauungen werten und - ganz wesentlich - das Reich nach der Geschichte, die es genommen hat, beurteilen. Weil es aber in der Geschichte kaum Zwangsläufigkeiten gibt und die historische Entwicklung grundsätzlich ergebnisoffen ist, wäre es ungerecht, vom Ende her ein negatives Urteil über die Reichsbildung zu fällen!
Die deutsche Einigung in föderaler Vielfalt - nichts anderes war die sog. Reichsgründung - nahm eine alte Tradition auf: die des Heiligen Römischen Reiches und der lockeren Weiterführung als Deutscher Bund, außerdem die Erfahrungen mit dem napoleonischen Frankreich. Insbesondere in bürgerlichen, gebildeten Kreisen war die Idee eines starken deutschen Staates, eines Nationalstaates, in dem die deutschen Länder ihre wirtschaftlichen, politischen und auch militärischen Kräfte bündeln sollten, populär und nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Eine erste Reichsbildung scheiterte 1848/49. Dann übernahm Preußen mehr oder weniger zielgerichtet diese Aufgabe.
Wenn man ein "Pro" sehen will, dann die Tatsache, dass es Preußen gelang, einen wirtschaftlich und militärisch starken, politisch stabilen Staat, der dennoch dem Föderalismus Rechnung trug, aufzubauen, der sogar demokratische Elemente hatte, nämlich einen demokratisch (von Männern) gewählten Reichstag. Das Deutsche Reich war ein Rechts- und Verfassungsstaat, der allen Reichsangehörigen eine materielle Existenz ermöglichte, mit geringerer Verelendung breiter Volksschichten als in anderen damaligen Ländern.
Unter "Contra" könnte man ggf. verbuchen und wurde auch von etlichen Zeitgenossen beklagt, dass die deutsche Einigung nicht vollkommen geglückt ist, denn Österreich blieb ausgeschlossen. Allerdings wurde das in den folgenden Jahren dadurch etwas wettgemacht, dass das Deutsche Reich und das Habsburgerreich enge Verbündeten wurden. Auch die zu starke Ausrichtung der Reichsverfassung auf die Person des Reichskanzlers Bismarck und die zu große Macht des Kaisers war, wie sich allerdings erst später herausstellte, eine Belastung für die weitere Reichsgeschichte. Aber auch diesen Punkt darf man nicht zu hoch gewichten, weil die Reichsgründung eine Entwicklung zu einer parlamentarischen Monarchie nicht von vorneherein ausschloss!
Für Interessierte empfehle ich diese interessant geschriebene, zuverlässige Gesamtdarstellung des Kaiserreichs als Einstiegsliteratur:
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MfG
Arnold