Welchen Zweck hat die Neigung nach Immanuel Kant?

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Zweck der Neigungen

Neigungen sind Motive. Sie liefern Inhalte des Strebens und können handlungswirksam werden. Neigungen legen materiale (inhaltliche) Zwecke als Vorgaben nahe, die wir verwirklichen wollen, wobei wir nach Kants Ethik die Moralität prüfen müssen. Neigungen sind Hinweise auf Bedürfnisse.

Unter Neigung versteht Immanuel Kant das von Empfindungen bestimmte Begehrungsvermögen.

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785/6). Zweiter Abschnitt. Übergang von der populären sittlichen Weltweisheit zur Metaphysik der Sitten (AA IV 4013/BA 38, Anmerkung):
„Die Abhängigkeit des Begehrungsvermögens von Empfindungen heißt Neigung, und diese beweiset also jederzeit ein Bedürfniß.“

Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788). Vorrede (AA V 009/BA 38, Anmerkung):
„Leben ist das Vermögen eines Wesens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zu handeln. Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen desselben, durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.“

In den Neigungen steckt ein Verlangen nach Glückseligkeit, die nach Kant ein Gut und ein Ziel ist. Die Neigungen haben also mit ihrer Tendenz, uns in diese Richtung zu bewegen, einen Zweck. Jedoch hält Kant es für falsch und unmöglich, aus der Glückseligkeit als Bestimmungsgrund ein moralisches/sittliches Gesetz herzuleiten.

Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788). Erster Theil. Elementarlehre der reinen praktischen Vernunft. Erstes Buch. Die Analytik der reinen praktischen Vernunft. Erstes Hauptstück. Von den Grundsätzen der reinen praktischen Vernunft. § 3. Lehrsatz II Anmerkung I (AA V 024/A 45):
„Das Princip der eigenen Glückseligkeit, so viel Verstand und Vernunft bei ihm auch gebraucht werden mag, würde doch für den Willen keine andere Bestimmungsgründe, als die dem unteren Begehrungsvermögen angemessen sind, in sich fassen, und es giebt also entweder gar kein oberes Begehrungsvermögen, oder reine Vernunft muß für sich allein praktisch sein, d. i. ohne Voraussetzung irgend eines Gefühls, mithin ohne Vorstellungen des Angenehmen oder Unangenehmen als der Materie des Begehrungsvermögens, die jederzeit eine empirische Bedingung der Principien ist, durch die bloße Form der praktischen Regel den Willen bestimmen können.“

Anmerkung II (AA IV 025/A 46):
„Glücklich zu sein, ist nothwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicher Besitz und eine Seligkeit, welche ein Bewußtsein seiner unabhängigen Selbstgenugsamkeit voraussetzen würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist, und dieses Bedürfniß betrifft die Materie seines Begehrungsvermögens, d. i. etwas, was sich auf ein subjectiv zum Grunde liegendes Gefühl der Lust oder Unlust bezieht, dadurch das, was es zur Zufriedenheit mit seinem Zustande bedarf, bestimmt wird. Aber eben darum, weil dieser materiale Bestimmungsgrund von dem Subjecte blos empirisch erkannt werden kann, ist es unmöglich diese Aufgabe als ein Gesetz zu betrachten, weil dieses als objectiv in allen Fällen und für alle vernünftige Wesen eben denselben Bestimmungsgrund des Willens enthalten müßte. Denn obgleich der Begriff der Glückseligkeit der praktischen Beziehung der Objecte aufs Begehrungsvermögen allerwärts zum Grunde liegt, so ist er doch nur der allgemeine Titel der subjectiven Bestimmungsgründe und bestimmt nichts specifisch, darum es doch in dieser praktischen Aufgabe allein zu thun ist, und ohne welche Bestimmung sie gar nicht aufgelöset werden kann. Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an, und selbst in einem und demselben Subject auf die Verschiedenheit des Bedürfnisses nach den Abänderungen dieses Gefühls, und ein subjectiv nothwendiges Gesetz (als Naturgesetz) ist also objectiv ein gar sehr zufälliges praktisches Princip, das in verschiedenen Subjecten sehr verschieden sein kann und muß, mithin niemals ein Gesetz abgeben kann, weil es bei der Begierde nach Glückseligkeit nicht auf die Form der Gesetzmäßigkeit, sondern lediglich auf die Materie ankommt, nämlich ob und wieviel Vergnügen ich in der Befolgung des Gesetzes zu erwarten habe.“

Albrecht  12.12.2012, 06:02

Kant versteht Glück(seligkeit) als ein Wohlbefinden, als empfundene subjektive besonders hohe Zufriedenheit. Das höchste Gut besteht nach ihm in der Übereinstimmung von Glückseligkeit und Glückwürdigkeit, bei der die Tugendhaften entsprechend ihrer Tugend belohnt werden. Glück stellt nach Kants Auffassung ein Ziel dar, ist aber nach seiner Überzeugung für die Begründung moralisch/sittlich guten Handelns ungeeignet. Sein Glück zu fördern, geschehe schon ganz natürlich aus Selbstliebe. Beim Erreichen der Glückseligkeit gelten Gebote der Klugheit. Diese stellen nur hypothetische Imperative dar. Diese Gebote haben bloß subjektive Gültigkeit, sie gelten nur unter der Bedingung/Vorausssetzung, irgendwelche Zwecke als angestrebtes Ziel zu haben. Dann geht es darum, die zur Verwirklichung geeigneten Mittel zu verwenden.

Dies enthält keine Bestimmumgsgründe des Wollens, die objektiv und allgemeinverbindlich Gültigkeit als gut beanspruchen könne, das Gute würde aufgrund von ihnen nicht notwendig getan, im Unterschied zum kategorischen Imperativ, der unbedingt gilt. Allein ein guter Wille kann uneingeschränkt für gut gehalten werden.

Verhältnis Vernunft/Verstand und Neigung

Vernunft/Verstand sollen eine leitende Rolle übernehmen und wie ein Vormund sein, wo es um moralische Fragen geht. Die praktische Vernunft hat den Vorrang gegenüber der Neigung.

Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788). Erster Theil. lementarlehre der reinen praktischen Vernunft. Zweites Buch. Dialektik der reinen praktischen Vernunft. Zweites Hauptstück. Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriffs vom höchsten Gut. II. Kritische Aufhebung der Antinomie der praktischen Vernunft (AA 117/A 212 – 213):
„Freiheit und das Bewußtsein derselben als eines Vermögens, mit überwiegender Gesinnung das moralische Gesetz zu befolgen, ist Unabhängigkeit von Neigungen, wenigstens als bestimmenden (wenn gleich nicht als afficirenden) Bewegursachen unseres Begehrens, und, so fern als ich mir derselben in der Befolgung meiner moralischen Maximen bewußt bin, der einzige Quell einer nothwendig damit verbundenen, auf keinem besonderen Gefühle beruhenden, unveränderlichen Zufriedenheit, und diese kann intellectuell heißen. Die ästhetische (die uneigentlich so genannt wird), welche auf der Befriedigung der Neigungen, so fein sie auch immer ausgeklügelt werden mögen, beruht, kann niemals dem, was man sich darüber denkt, adäquat sein. Denn die Neigungen wechseln, wachsen mit der Begünstigung, die man ihnen widerfahren läßt, und lassen immer ein noch größeres Leeres übrig, als man auszufüllen gedacht hat. Daher sind sie einem vernünftigen Wesen jederzeit lästig, und wenn es sie gleich nicht abzulegen vermag, so nöthigen sie ihm doch den Wunsch ab, ihrer entledigt zu sein. Selbst eine Neigung zum Pflichtmäßigen (z. B. zur Wohlthätigkeit) kann zwar die Wirksamkeit der moralischen Maximen sehr erleichtern, aber keine hervorbringen. Denn alles muß in dieser auf der Vorstellung des Gesetzes als Bestimmungsgrunde angelegt sein, wenn die Handlung nicht blos Legalität, sondern auch Moralität enthalten soll. Neigung ist blind und knechtisch, sie mag nun gutartig sein oder nicht, und die Vernunft, wo es auf Sittlichkeit ankommt, muß nicht blos den Vormund derselben vorstellen, sondern, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, als reine praktische Vernunft ihr eigenes Interesse ganz allein besorgen.“

Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793). Zweites Stück. Von dem Kampf des guten Princips mit dem bösen um die Herrschaft über den Menschen (AA 058):
„Natürliche Neigungen sind, an sich selbst betrachtet, gut, d.i. unverwerflich, und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre auch schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen; man muß sie vielmehr nur bezähmen, damit sie sich untereinander nicht selbst aufreiben, sondern zur Zusammenstimmung in einem Ganzen, Glückseligkeit genannt, gebracht werden können. Die Vernunft aber, die dieses ausrichtet, heißt Klugheit. Nur das Moralisch-Gesetzwidrige ist an sich selbst böse, schlechterdings verwerflich, und muß ausgerottet werden; die Vernunft aber, die das lehret, noch mehr aber, wenn sie es auch ins Werk richtet, verdient allein den Namen der Weisheit, in Vergleichung mit welcher das Laster zwar auch Torheit genannt werden kann, aber nur alsdenn, wenn die Vernunft gnugsam Stärke in sich fühlt, um es (und alle Anreize dazu) zu verachten, und nicht bloß als ein zu fürchtendes Wesen zu hassen, und sich dagegen zu bewaffnen.“

Kant meint nicht, die Neigungen sollten immer und völlig unterdrückt oder gar ausgerottet werden. Im Konfliktfall mit der Pflicht sollen sie aber abgewehrt werden.

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Albrecht  12.12.2012, 06:05

Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788). Erster Theil. Elementarlehre der reinen praktischen Vernunft. Erstes Buch. Die Analytik der reinen praktischen Vernunft. Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft (AA V 072 – 073/A 128 – 129):
„Das Wesentliche aller Bestimmung des Willens durchs sittliche Gesetz ist: daß er als freier Wille, mithin nicht blos ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe, sondern selbst mit Abweisung aller derselben und mit Abbruch aller Neigungen, so fern sie jenem Gesetze zuwider sein könnten, blos durchs Gesetz bestimmt werde. So weit ist also die Wirkung des moralischen Gesetzes als Triebfeder nur negativ, und als solche kann diese Triebfeder a priori nur negativ, und als solche kann diese Triebfeder a priori erkannt werden. Denn alle Neigung und jeder sinnliche Antrieb ist auf Gefühl gegründet, und die negative Wirkung aufs Gefühl (durch den Abbruch, der den Neigungen geschieht) ist selbst Gefühl.“

(AA V 073/A 129 – 130):
„Alle Neigungen zusammen (die auch wohl in ein erträgliches System gebracht werden können, und deren Befriedigung alsdann eigene Glückseligkeit heißt) machen die Selbstsucht ( solipsismus ) aus. Diese ist entweder die der Selbstliebe, eines über alles gehenden Wohlwollens gegen sich selbst ( Philautia ), oder die des Wohlgefallens an sich selbst ( Arrogantia ). Jene heißt besonders Eigenliebe, diese Eigendünkel. Die reine praktische Vernunft thut der Eigenliebe blos Abbruch, indem sie solche, als natürlich und noch vor dem moralischen Gesetze in uns rege, nur auf die Bedingung der Einstimmung mit diesem Gesetze einschränkt; da sie alsdann vernünftige Selbstliebe genannt wird. Aber den Eigendünkel schlägt sie gar nieder, indem alle Ansprüche der Selbstschätzung, die vor der Übereinstimmung mit dem sittlichen Gesetze vorhergehen, nichtig und ohne alle Befugniß sind, indem eben die Gewißheit einer Gesinnung, die mit diesem Gesetze übereinstimmt, die erste Bedingung alles Werths der Person ist (wie wir bald deutlicher machen werden) und alle Anmaßung vor derselben falsch und gesetzwidrig ist. Nun gehört der Hang zur Selbstschätzung mit zu den Neigungen, denen das moralische Gesetz Abbruch thut, so fern jene blos auf der Sinnlichkeit beruht. Also schlägt das moralische Gesetz den Eigendünkel nieder.“

pflichtgemäße Handlungen und Handlungen aus Pflicht

Immanuel Kant versteht, wenn das moralische/sittliche Gesetz als Verpflichtungsgrund angesprochen wird, unter Pflicht eine Verbindlichkeit als moralisches Gebot (Sollen), eine innere Pflicht, nicht eine von außen, von anderen geforderte bzw. vorgeschriebene Pflicht. Kant hält es für eine Pflicht, als vernunftbegabtes Wesen dem moralischen/sittlichen Gesetz zu folgen, weil dies die Achtung vor dem mittels der Vernunft eingesehenen Gesetz gebietet. Die moralische Nötigung der Willkür durch die Pflicht ist ein innerer Zwang (Selbstzwang). Sie geschieht durch Selbstbindung eines Vernunftwesens an ein von ihm selbstbestimmt aufgestelltes sittliches Gesetz, das allgemein für vernünftige Wesen gültig ist. Die Selbstverpflichtung gründet in Autonomie (Selbstgesetzgebung). Ein vernünftiges Wesen will das, was es als der praktischen Vernunft entsprechend eingesehen hat.

Beim Menschen gibt es eine Pflicht als Forderung, weil er zwar ein vernünftiges Wesen, aber ein endliches Wesen und kein reines Geistwesen ist. Die subjektive Beschaffenheit seines Wollens stimmt nicht von selbst mit dem objektiven Gesetz einer praktischen Vernunft überein. Nach der von Immanuel Kant vertretenen Ethik hat der Mensch als Naturwesen Neigungen und kann daher Lust bekommen, das moralische Gesetz zu übertreten. Zur Befolgung des Gesetzes ist es dann nötig, die Neigungen zu überwinden, indem sich die Pflicht geltend macht.

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Albrecht  12.12.2012, 06:08

Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1786). Erster Abschnitt. Übergang von der gemeinen Sittlichen Vernunfterkenntniß zur philosophischen (AA IV 400/BA 14):
Pflicht ist die Nothwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz. Zum Objecte als Wirkung meiner vorhabenden Handlung kann ich zwar Neigung haben, aber niemals Achtung, eben darum, weil sie bloß eine Wirkung und nicht Thätigkeit eines Willens ist. Eben so kann ich für Neigung überhaupt, sie mag nun meine oder eines andern seine sein, nicht Achtung haben, ich kann sie höchstens im ersten Falle billigen, im zweiten bisweilen selbst lieben, d. i. sie als meinem eigenen Vortheile günstig ansehen. Nur das, was bloß als Grund, niemals aber als Wirkung mit meinem Willen verknüpft ist, was nicht meiner Neigung dient, sondern sie überwiegt, wenigstens diese von deren Überschlage bei der Wahl ganz ausschließt, mithin das bloße Gesetz für sich kann ein Gegenstand der Achtung und hiemit ein Gebot sein. Nun soll eine Handlung aus Pflicht den Einfluß der Neigung und mit ihr jeden Gegenstand des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könne, als objectiv das Gesetz und subjectiv reine Achtung für dieses praktische Gesetz, mithin die Maxime, einem solchen Gesetze selbst mit Abbruch aller meiner Neigungen Folge zu leisten.“

Der Ausdruck „pflichtgemäß“ betrifft nur die äußere Handlung. Der Ausdruck „aus Pflicht“ betrifft die innere Seite, das Motiv/die Triebfeder. Pflichtgemäßes Handeln kann bloßes äußeres Handeln, das dem Recht entspricht (Legalität), sein. Einen Wert als moralisch/sittlich gut hat aber nach Kant ein menschliches Handeln nur, wenn die Pflicht Bestimmungsgrund des Wollens ist. Eine Maxime (der subjektive Grundsatz) des Handelns hat nur dann einen moralischen Gehalt, wenn etwas Pflichtmäßiges aus Pflicht getan oder unterlassen wird, nicht eine (unmittelbare oder mittelbare) Neigung oder eine Furcht bestimmend ist. Jemand folgt der Stimme der Vernunft, im Handeln unbedingt ihrem Gesetz (kategorischer Imperativ) zu folgen.

Im Recht ist die Gesetzgebung auf die formale Vereinbarkeit der Handlungen bezogen. Bei Rechtspflichten kann die Nötigung ein äußerer Zwang sein Otfried Höffe, Immanuel Kant. Originalausgabe. 7., überarbeitete Auflage. München : Beck, 2007 (Beck'sche Reihe : Denker ; 506), S. 183:
„Nun gibt es drei Möglichkeiten, die sittliche Pflicht zu erfüllen. Erstens kann man die Pflicht befolgen und doch letztlich vom Selbstinteresse bestimmt sein; das trifft für den Geschäftsmann zu, der aus Angst, seine Kunden zu verlieren, auch unerfahrene Käufer ehrlich bedient. Zweitens kann man pflichtgemäß und Kunden zugleich mit einer inneren Neigung zur Pflicht handeln, beispielsweise einem Notleidenden aus Sympathie helfen. Schließlich kann man die Pflicht rein »aus Pflicht« anerkennen.

Der gute Wille liegt nicht schon dort vor, wo man die Pflicht aufgrund irgendwelcher Bestimmungsgründe tut; die Sittlichkeit einer Person besteht nicht in bloßer Pflichtgemäßheit, die Kant Legalität nennt. Denn die bloße Pflichtgemäßheit (sittliche Richtigkeit) einer Handlung hängt von den Bestimmungsgründen ab, aus denen man die Pflicht befolgt, ist also bedingt, nicht unbedingt gut. Das (metaethische) Kriterium der Sittlichkeit, das uneingeschränkte Gutsein, wird erst dort erfüllt, wo das sittlich Richtige aus keinem anderen Grund ausgeführt wird, als weil es sittlich richtig ist. Dort also, wo die Pflicht selbst gewollt ist und als solche erfüllt wird. Nur in diesen Fällen spricht Kant von Moralität.“

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Albrecht  12.12.2012, 06:16

Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Erster Teil. Elementarlehre der reinen praktischen Vernunft. Zweites Buch. Dialektik der reinen praktischen Vernunft. Drittes Hauptstück. Von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft (AA V 081/A 144 – 145):
„Der Begriff der Pflicht fodert also an der Handlung, objektiv, Übereinstimmung mit dem Gesetze, an der Maxime derselben aber, subjektiv, Achtung fürs Gesetz, als die alleinige Bestimmungsart des Willens durch dasselbe. Und darauf beruht der Unterschied zwischen dem Bewußtsein, pflichtmäßig und aus Pflicht, d.i. aus Achtung fürs Gesetz, gehandelt zu haben, davon das erstere (die Legalität) auch möglich ist, wenn Neigungen bloß die Bestimmungsgründe des Willens gewesen wären, das zweite aber (die Moralität), der moralische Wert, lediglich darin gesetzt werden muß, daß die Handlung aus Pflicht, d.i. bloß um des Gesetzes willen geschehe.

Es ist von der größten Wichtigkeit in allen moralischen Beurteilungen, auf das subjektive Prinzip aller Maximen mit der äußersten Genauigkeit Acht zu haben, damit alle Moralität der Handlungen in der Notwendigkeit derselben aus Pflicht und aus Achtung fürs Gesetz, nicht aus Liebe und Zuneigung zu dem, was die Handlungen hervorbringen sollen, gesetzt werde. Für Menschen und alle erschaffene vernünftige Wesen ist die moralische Notwendigkeit Nötigung, d.i. Verbindlichkeit, und jede darauf gegründete Handlung als Pflicht, nicht aber als eine uns von selbst schon beliebte, oder beliebt werden könnende Verfahrungsart vorzustellen.“

Höchste Wertschätztung/Anerkennung als moralisch wertvoll verdient nach Kant nur eine Handlung aus Pflicht. Wenn eine Neigung zur pflichtgemäßen Handlung führte, ist dies nicht wahrhaft moralisch wertvoll, kann aber Billigung/Lob/Ermunterung bekommen.

Die Triebfeder (der subjektive Bestimmungsgrund) des Handelns aus Pflicht ist die Achtung für das moralische Gesetz. Die Achtung ist ein von der Vernunft bewirktes Gefühl bzw. von so einem Gefühl begleitet.

Kontradiktorische, sich gegenseitig ausschließende Gegensätze sind Pflicht und Neigung nur hinsichtlich der Frage der Triebfedern/Motive. Die Neigung darf nach Kant bei einer wahrhaft moralisch wertvollen Handlung nicht als Bestimmungsgrund des Willens vorhanden sein. Eine Neigung kann bei einer tugendhaften Handlung in anderer Weise vorhanden sein. Verkehrt wäre allerdings eine Annahme, Handeln aus Pflicht erfordere notwendig, pflichtwidrige Neigungen zu haben oder zu entwickeln, indem deren Überwindung das Handeln als moralisch wertvoll qualifiziert.

Friedrich Schiller trifft in den Distichen, die in den 1797 erschienenen Xenien in der Gruppe »Die Philosophen« stehen, einen Rigorismus bei Kant, spitzt allerdings in Bezug auf die Gegensätzlichkeit zu und läßt den Rat auf der genannten fehldeutenden Annahme gründen: Eine pflichtwidrige Verachtung und Abscheu vor den Freunden wird als Ausweg vorgeschlagen (die Pflicht bekommt pflichtwidrige Neigungen, die sie überwinden kann), um tugendhaft zu sein.

"Gewissensskrupel:
Gerne dien' ich den Freunden,/ doch thu' ich es leider mit Neigung,/
Und so wurmt es mir oft,/ daß ich nicht tugendhaft bin.

Decisum [Entscheidung]:
Da ist kein andrer Rat,/ du mußt suchen, sie zu verachten,/
Und mit Abscheu alsdann thun, was die Pflicht dir gebeut."

Dieter Schönecker/Allen W. Wood, Immanuel Kant, „Grundlegung Metaphysik der Sitten“ : ein einführender Kommentar. 3., durchgesehene und bibliographisch aktualisierte Auflage. Paderborn ; München ; Wien ; Zürch : Schöningh, 2007 (UTB ; 2276 : Philosophie), S.63:
„Die Frage […], die Kant beantworten will, lautet: Was sind Handlungen „aus Pflicht“ […]? Kants Antwort fällt knapp aus, und sie hat zu einer Vielzahl von Mißverständnissen und sachlichen Problemen geführt. Dabei ist seine Kernthese wirklich einfach und überzeugend: Unsere größte moralische Hochschätzung erhält diejenige Handlung, die rein aus Pflicht geschieht, d. h. bloß aus Achtung vor dem moralischen Gesetz, ganz unabhängig von subjektiven Neigungen und Interessen. Damit ist nicht gesagt, daß nur solche Handlungen einen moralischen Wert haben; und damit ist erst recht nicht gesagt, daß man gegen Neigungen handeln muß, damit Handlungen einen moralischen Wert haben. Besonders Kants Beispiel haben dieses Mißverständnis hervorgerufen. Dabei zeigen gerade sie, recht verstanden, worauf Kant hinauswill.“

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Albrecht  12.12.2012, 06:20

S. 72: „Würde Kant sagen wollen, daß nur dort, wo aus Pflicht gehandelt wird, auch ein guter Wille ist, dann würde er sagen, daß wir nur dann einen guten Willen haben können, wenn es keine nichtmoralischen Antriebe gibt, unsere Pflicht zu tun; vielleicht würde er dann sogar sagen, daß nur der aus Pflicht handelt, der entgegengesetzte Neigungen überwinden muß. So gesehen müßte, wer danach strebt, aus Pflicht zu handeln, danach streben, keine nichtmoralischen Antriebe zu haben oder sogar, pflichtwidrige Neigungen zu haben oder zu entwickeln (nur um sie dann überwinden zu können);“

S. 72 – 73: „Aber es bedarf kaum der Erwähnung, daß Kant natürlich nicht behauptet hat, wir müßten unsere Freunde hassen oder irgendwelchen anderen pflichtwidrigen Neigungen fördern, nur um uns so Gelegenheit zu geben, solchen Neigungen zu widerstehen (das wäre so, als ob müßte man einen geliebten Menschen absichtlich in Gefahr stürzen, um auf diese Weise Gelegenheit zu haben, seien Pflichttreue zu erweisen, daß man diesen geliebtem Menschen rettet). Ganz im Gegenteil, Kant sagt an andere Stelle ausdrücklich, daß wir die Pflicht haben, Liebe, Mitgefühl und andere Gefühle zu kultivieren, da sie es uns erleichtern und sogar erst ermöglichen, unsere Pflichten zu tun […].“

S. 73: „Kant fragt, was es eigentlich ist, was wir moralisch am höchsten wertschätzen und dem wir unsere größte Hochachtung entgegenbringen. Die Antwort lautet: Es ist das Wollen des moralisch Guten* um des moralisch Guten selbst willen und aus keinem anderen Grund*. Zu einer Handlung aus Pflicht gehört also erstens, daß die angestrebte Handlung objektiv pflichtgemäß ist; zweitens gehört dazu, daß sie um ihrer selbst willen angestrebt wird (also deshalb, weil sie pflichtgemäß ist); und drittens gehört dazu (das ergibt sich aus der Bedeutung der zweiten Bedingung), daß kein weiteres Motiv für die pflichtgemäße Handlung vorliegt.

S. 76 – 77: „Die Behauptung, daß es mit der Achtung vor dem moralischen Gesetz so etwa wie ein genuin-moralische Motivation gibt […], ist allein schon deshalb plausibel, weil wir sonst nicht erklären können, warum der in den Beispielen beschriebene Unterschied zwischen Handlungen aus Pflicht und Handlungen aus Neigung so fest in der geminen sittlichen Vernunfterkenntnis verankert ist.“

S. 77: „Der letzte Punkt erklärt auch, warum wir Kant nicht unterstellen sollten, moralisch wertvoll seien nur Handlungen aus Pflicht. Ohne Frage sagt Kant wiederholt, nur die Handlung aus Pflicht sei moralisch wertvoll. Aber er schreibt genauer, daß nur eine Handlung aus Pflicht „wahren, sittlichen Wert“[…], „echten moralischen Wert“ […] oder „eigentlichen moralischen Wert“ […] habe. Das heißt: Den höchsten moralischen Wert besitzen tatsächlich und auschließlich Handlungen, denen alleine und nur das moralische Motiv der Achtung vorliegt. Das heißt aber auch: Pflichtmäßige Handlungen und besonders solche, denen eine unmittelbare Neigung zugrundeliegt, fallen nicht aus dem Kontext moralischer Beurteilung und Reaktion heraus. Aber warum ist es überhaupt so, daß wir Handlungen, die rein aus Pflicht geschehen, so viel Hochachtung entgegenbringen? Die Antwort lautet zunächst ganz einfach und nicht weiter analysierbar: Weil sie uneingeschränkt wertvoll sind. Unsere Wertschätzung ist Reflex der Tatsache, daß solche Handlungen an sich moralisch wertvoll sind, und daß alle anderen Kandidaten (Naturgaben, Glücksgaben, unmittelbare Neigungen zu pflichtmäßigen Handlungen, pflichtmäßige Handlungen) sich als weniger oder gar nicht wertvoll erwiesen haben. Außerdem betont Kant mehrmals, daß allein eine moralische Motivation eine gewisse moralische Stabilität (Zuverlässigkeit, Regelmäßigkeit) garantiert. Nichtmoralische Motive führen manchmal, aber nicht immer zu pflichtgemäßen Handlungen.“

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Die Frage ist interessant, weil die Rolle der Neigung bei Kant extrem umstritten ist und häufig unterschiedlich interpretiert wurde / wird. Ich weiß nicht, wie groß dein philosophisches Vorwissen, Interesse usw. ist, aber um es simpel zu machen:

Die Neigung muss nach Kant stets der Vernunft untergeordnet werden bzw. letztere sollte die "Herrschaft" über erstere haben. Dass heißt nicht, dass die Neigung nutzlos oder "minderwertig" sein muss, sondern nur, dass sie einen nicht in moralischen Fragen leiten darf. Vernunft: primär; Neigung: sekundär. Um's kurz zu machen.

Kant unterscheidet dann in seiner Handlungstypologie zwoschen Handlungen aus Pflicht und pfllichtgemäßen Handlungen. Wenn dich das noch interessiert, sag bescheid -- denn dann müsste man weiter ausholen ;-)

skino 
Fragesteller
 11.12.2012, 19:44

So ähnlich haben wir es im Unterricht besprochen. Unser Lehrer meinte, dass die Neigung bei einer tugendhaften Handlung nicht vorhanden sein darf. Dies kritisiert Schiller auch: „Gerne dien' ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung/ Und so wurmt es mir oft, dass ich nicht tugendhaft bin.“ Versteht Kant die Neigungen wirklich so negativ?

Ich habe kritisiert: Wenn, laut Kant, alles einen Zweck bekommen hat, dann müssten die Neigungen auch einen Zweck besitzen. Da Kant ja indirekt dazu aufruft, seine Neigungen zu unterdrücken, wird des Zweck der Neigung gleichzeitg unterdrückt. Es kann nicht Sinn der Natur gewesen sein, uns Dinge zu verschaffen, deren Zwecke wir dann unterdrücken. Ist die Argumentation schlüssig, habe ich irgendetwas übersehen oder äußert sich Kant zu dem Thema noch irgendwo?

Wäre super, wenn du noch ein bisschen weiter ausholst. Sternchen garantiert ;)

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TeeEi  12.12.2012, 06:14
@skino

Ich rede einfach mal dazwischen.

Es kann nicht Sinn der Natur gewesen sein, uns Dinge zu verschaffen, deren Zwecke wir dann unterdrücken.

Ich gehe davon aus, das ist deine These, die wohl auch ein wenig von dem Weltbild der Evolution beeinflusst ist. Es ist aber nicht der Fall, dass alles, was von der Natur ist, auch gut ist. Krankheiten sind auch völlig natürlich, und wir bekämpfen sie, und das tun wir sogar aus unserer Natur. Überhaupt ist die Natur so, wie sie ist. Daher ist deine Annahme, dass die Natur einen Sinn hat, metaphysisch und lässt sich nicht belegen. Theisten würden hier sagen: Gott hat uns Neigung gegeben, deshalb hat sie sicherlich einen Sinn und kann nicht schlecht sein. Wenn man nun aber etwas korrekter aus der Sicht der Evolution argumentiert, kann man sagen, dass die Neigung sehr wahrscheinlich für die Menschen nützlich sind, ihnen einen Überlebensvorteil verschafft. Wenn man es weiter ausführt, widerlegt man Kant zwar nicht unbedingt, aber man kann wahrscheinlich eine Schwäche von seiner Theorie aufzeigen. Man muss auch bedenken, dass Kant Darwin nicht kannte und ebenso wenig moderne Psychologie. Deshalb verstehen wir unter Neigung automatisch etwas anders als Kant und seine Zeitgenossen.

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cjs0607  12.12.2012, 13:18
@skino

tja jetzt bin ich ein bisschen zu spät gekommen zum weiteren Ausholen ;-)

Was Schiller angeht, bekommst du entweder den Kommentar, er habe den wunden Punkt bei Kant getroffen, oder aber den, er habe vollkommen daneben gelegen... je nach Kant-Interpretation. Dementsprechend uneinig sind sich die "Interpreten" auch in Bezug auf pflichtgemäße Handlungen und H. aus Pflicht:

Den besten Kommentar hat mE Albrecht abgegeben; such' mal hier auf der Seite nach "Schönecker" (Strg+F ist Suche, falls du's nicht weißt :-) ). Das Zitat ist, wie ich finde, absolut treffend.

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Die „Neigung“ wird von Kant negativ gesehen; im Gegensatz zu den deutschen Klassikern Goethe und Schiller, die in der Neigung auch etwas Positives gesehen haben, denn sie sahen das wahrhaft Menschliche erst dann verwirklicht, wenn jemand ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Vernunft und Neigung herstellen konnte. Insbesondere Schiller war bestrebt, den strengen Dualismus von Natur (= Neigung) und Freiheit (= Vernunft; es gibt nur eine „vernünftige“ Freiheit; die totale Freiheit führt ins Chaos) zu überwinden. Ziel der Klassik war die Humanität, die wahre Menschlichkeit. Alle menschlichen Kräfte und Fertigkeiten sollen gleichermaßen ausgebildet werden und eine Einheit (Harmonie) bilden, keine Eigenschaft, z.B. die Vernunft, soll auf Kosten einer anderen (z.B. des Gefühls) bevorzugt werden; s. hierzu Wikipedia; Stichwort Klassik). Dieses Ideal sah man in der Kunst der griechischen Antike verwirklicht. - Im Unterschied dazu wird im ZA. der Aufklärung die Vernunft höher bewertet als das Gefühl (die Leidenschaften). Diese sollen durch die Kräfte der Vernunft "unter Kontrolle gehalten" werden. So kommt es für den Aufklärer Kant nur darauf an, seine Neigungen, zu denen auch die Leidenschaften gehören, unter die Kontrolle der Vernunft zu stellen. Siehe z.B. der Kant-Experte Friedrich Kaulbach: „Dabei soll der Mensch eine Verfassung in sich herstellen, in welcher er die wahre Rangordnung zwischen Sittengesetz und Naturneigung in sich selbst verwirklicht. Er kann in der Perspektive der Welt der Gesetzlichkeit, die er von diesem Stand aus entwirft, seine Pflicht erkennen und sie erfüllen. Die durch inneres Handeln gewonnene Verfassung des Willens nennt Kant die des ’guten’ Willens.“ (Friedrich Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus I, S. 127 ff). Das bedeutet einmal, dass ohne den „guten Willen“ der von Kant favorisierte kategorische. Imperativ nur Schall und Rauch ist. Oder anders ausgedrückt: Die „vernünftige“ Erkenntnis der Richtigkeit des kategorischen Imperativs genügt alleine nicht (jeder Vernünftige sieht schließlich ein, dass man nicht stehlen, betrügen, verleumden, mobben etc. soll), man muss auch einen „guten Willen“ in sich entwickeln, solche „Neigungen“ zu unterlassen. Zum zweiten kann hiernach der Zweck einer Neigung nach Kant nur darin liegen, dass die Neigungen „vernünftig“ ausgeübt werden, da sie in der Rangordnung eindeutig hinter der Vernunft rangieren. Das bedeutet, dass man seine Triebe, Gefühle und Leidenschaften nicht hemmungslos ausleben, sondern nur nach dem weisen Ratschlag der Vernunft entfalten soll; m.a.W. man soll sie zügeln (Ganz unterdrücken kann man seine Neigungen natürlich nicht, das hat selbstverständlich auch Kant so gesehen; denn der Mensch ist schließlich kein reines Vernunftwesen).