Warum wird aus edere manchmal esse/es/est?
Hier ein Beispiel:
Cibus ovium est herba, quae in campō est. In rivō est
aqua. Ovēs in campō herbam edunt, et aquam bibunt ē
rivō, quī inter campum et silvam est. Canis herbam nōn
ēst, neque pāstor herbam ēst. Cibus pāstōris est pānis,
quī inest in saccō. Iūlius pāstōri suō pānem dat. Pāstor
canī suō cibum dat: canis ā pāstōre cibum accipit. Ita
que canis pāstōrem amat
3 Antworten
Edere ist hinterhältig, denn hinter diesen 5 Buchstaben verstecken sich zwei völlig verschiedene Vokabeln:
1) edere, edo, ēdi, ēsum = essen
2) ēdere, ēdo, edidi, editum = herausgeben
Da die untere Vokabel sehr viel häufiger vorkam, "musste" sich - so schätze ich - die obere Vokabel eine Niesche suchen, um nicht ständig verwechselt zu werden. Und so entwickelte sich, wie ich vermute, die obere Vokabel zu einem unregelmäßig konjugierten Verb. Dabei konnte eine Verwechslung mit esse ausgeschlossen werden, weil dessen Anfangs-E grundsätzlich immer kurz ist, während das Anfangs-E von den verkürzten edere-Formen grundsätzlich immer lang gesprochen wird.
Hilft dir das weiter?
Du hast bereits zwei Antworten bekommen, die Dir erklären, wie sich ĕdĕre in seinen Formen verhält — schnell gesagt gibt es ein paar verkürzte Formen (ēsse, ēs, ēst, ēstis auch Konj. Impf. ēssem etc), die sich nur im langen Vokal von denen des Hilfverbs ĕsse unterscheiden, sowie einen Konjunktiv Präsens auf -i-, nämlich ĕdim, …. Die eigentlich erwarteten langen Formen tauchen erst in der späteren Kaiserzeit auf.
Stellt sich nur mehr die Frage, warum das so ist.
Wenn Du ein bißchen nachdenkst, wird Dir ein anderes Verb in den Sinn kommen: velle, vis, vult, vultis, vellem, … hat genau dasselbe Muster von Kurzformen, und ebenfalls einen Konjunktiv auf -i-, nämlich velim, …. Auch im Griechischen zeigt das entsprechende ἔδω édō ‘ich esse’ ein paar kleine Unregelmäßigkeiten: Es kommt vor allem im Präsens vor und nimmt in den Singularformen des Konjunktiv ungewöhnliche, sehr altertümliche Endungen (z.B. ἔδῃσθα édēⱼstha ‘du essest’ statt wie erwartet ἔδῃς édēⱼs). Das Verb starb bereits früh und ist in der klassischen Epoche sehr selten.
All das ist konsistent damit, daß das Wort ursprünglich, also im Indogermanischen, in eine andere Konjugationsklasse fiel, nämlich in die athematische. Diese Verben verwenden keine Bindevokale; die rekonstruierten indogermanischen Formen lauten daher *h₁édmi, *h₁édsi, *h₁édˢti, *h₁dmós, *h₁dˢté, *h₁dénti oder wenn Du ein Anhänger des Narten-Präsens bist *h₁ḗdmi, *h₁ḗdsi, *h₁ḗdˢti, *h₁édmos, *h₁édˢte, *h₁édn̥ti.
Diese Klasse wurde im Lateinischen fast völlig abgeschafft; ĕsse ist das einzige vollwertige Beispiel, sonst gibt es nur noch vĕlle und seine Verwandten, ire und (umstritten) fĕrre, sowie kleine Relikte bei dăre (fast nur sichtbar in der Kürze des Stammvokals). Alle anderen Verben aus dieser Klasse, z.B. stāre, wurden im Lateinischen vollkommen regularisiert.
Die Kurzformen sind also nicht nachträglich gekürzt worden, sondern genau so aus der Vorläufersprache ererbt; die Langformen sind jünger und wurden in Analogie zu den anderen Verben nachgebildet. Formen wie edam für den Konjunktiv gibt es erst seit der Kaiserzeit, und die meisten davon (edit, edĕrem, edĕre) tauchen erst im 2. und 3. Jhd. n.Chr. auf; das war dann die letzte Stufe der Regularisierung.
Letztlich hat dem Verb aber alle Regularisierung nichts geholfen, es ist nämlich in allen romanischen Sprachen ausgestorben und bestenfalls als Kompositum erhalten (port. como ‘ich esse’, Inf. comer ← comĕdo, comēsse), das dann völlig regelmäßig konjugiert wird
Lateinische Konjuktive auf -i- sind übrigens indogermanische Optative, die im Lateinischen fast völlig ausgestorben sind und nur in ein paar ursprünglich athematischen Verben erhalten blieben: sim, velim, edim, duim (letzteres ist im klassischen Latein selten und im wesentlichen auf Wünsche oder Flüche beschränkt: di te perduint ‘mögen die Götter dich verderben’).
Natürlich stammt auch Deutsch essen von derselben indogermanischen Wurzel *h₁ed- ab, aber es hat seinen athematischen Charakter längst verloren und ist ein normales starkes Verb der Klasse V geworden.
Meine Geheimwaffe ist: Michael Weiss, Outline of the Historical and Comparative Grammar of Latin, Beeche Stave Press, 2009.
Hallo,
deswegen steht über dem e bei est ein Strich, der andeutet, daß das e lang ist im Gegensatz zum e von est in der Bedeutung er/ sie/ es ist.
Est mit langem e ist eine Kurzform von edit, er/ sie /es ißt.
Es gibt auch noch die Kurzform zu editis, ihr eßt, nämlich estis.
Herzliche Grüße,
Willy
Herausragend!
Hast du eine Literaturempfehlung für mich, mit deren Hilfe ich mir diese Hintergründe auch anlesen kann?