Man kann zwar allen Atomen ein Elektron wegnehmen, aber nicht allen ein zusätzliches aufdrängen. Anders gesagt: Alle Atome haben eine Ionisierungsenergie, aber nicht alle eine Elektronenaffinität (oder, äquivalent gesagt, manche haben eine negative Elektronenaffinität, weil die Bindung eines Elektrons Energie verbraucht)
Es ist relativ einleuchtend, warum das so ist: Ein Atom, dem ein Elektron geklaut wurde, kann ja nichts dagegen machen und muß mit dem Mangel irgendwie klarkommen. Andererseits kann sich ein Atom einfach weigern, ein zusätzliches Elektron zu binden, und es einfach ignorieren. Atome mit negativer Elektronenaffinität binden das Zusatzelektron einfach nicht.
Die meisten Atome binden ein zusätzliches Elektron, sogar Wasserstoff tut das. Das ist ein bißchen überraschend, denn die naïve Vorstellung, das Elektron würde von der Kernladung angezogen, funktioniert für Atomanionen nicht: Das Atom ist ja neutral und sollte auf ein vorbeifliegendes Elektron gar keine Anziehung ausüben. In der Praxis kommt aber erschwerend dazu, daß die meisten Atome teilweise gefüllte Außenschalen haben, und ein zusätzliches Elektron kann da eingebaut werden, wenn die anderen Elektronen dadurch stabilisiert werden (z.B. durch Spin–Spin-Kopplungen).
Die Atome mit vollständig gefüllter Außenschale haben den geringsten Anreiz, ein Elektron aufzunehmen. Das trifft strikt auf die Edelgase zu, die daher alle niemals Anionen bilden. Aber auch einige andere Atome binden kein Zusatzelektron: Die Erdalkalimetalle Be und Mg (die haben zumindest eine vollständig gefüllt s-Unterschale), außerdem Zn, Cd und Hg mit der vollständig gefüllten d-Unterschale und Yb (mit f¹⁴). Halbgefüllte Schalen sind auch besonders stabil, und deshalb haben N (p³) und Mn (d⁵) auch keine stabilen Anionen.
Du siehst, daß diese Anomalien vorwiegend leichte Atome betreffen; bei schwereren sind die Unterschalen energetisch weniger getrennt und daher weniger signifikant. Deshalb ist auch zu erwarten, daß hinreichend schwere Edelgase vielleicht doch einmal ein Elektron aufnehmen werden; bei Radon ist das definitiv nicht der Fall, aber sein schweres Homolog Oganesson ist vielleicht schon schwer genug, um ein Elektron ins 9s zu erlauben, weil das auch nicht viel höher als das 8p liegt. Berechnen zufolge hat es eine positive Elektronenaffinität, aber da nur wenige Atome davon je hergestellt wurden, weiß man es experimentell nicht.