Warum englische Fragen und Verneinungen mit "to do" relativ komplex?

6 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Hallo,

eine spannende Frage ... Die obligatorische Setzung eines Hilfsverbs in Fragen und verneinten Sätzen mag für Englischlernende verwirrend sein, ist aber im Endeffekt eine konsequente Weiterentwicklung. Das Ganze geschieht in Analogie zu Fragen und verneinten Sätzen mit mehrteiligen Verbformen, die im Laufe der englischen Sprachgeschichte immer wichtiger und zahlreicher geworden sind - zum Beispiel die Herausbildung der Progressive- und Perfect-Zeiten - und heutzutage nur noch zwei einfachen Zeiten ohne Hilfsverb gegenüberstehen (Present Simple und Past Simple). Hinzu kommt, dass das Englische im Mittelater fast sämtliche Flexionsendungen verloren hat, was auch dazu geführt hat, dass der SVO-Satzbau (mit wenigen, in der Regel literarischen, Ausnahmen) verpflichtend geworden ist. Denn nur so lassen sich Subjekt und Objekt eindeutig identifizieren. Das sieht man besonders schön in den beiden Fragen: Who saw you? vs. Who did you see? Ohne do-Support ließen sich Subjekts- und Objektsfrage nicht unterscheiden, es sei denn man würde die Objektsform whom verwenden, die aber aus der gesprochenen Alltagssprache so gut wie verschwunden ist. Dieses Verschwinden ist gleichzeitig durch die obligatorische Setzung eines Hilfsverbs vor das Subjekt begünstigt worden, da nun nicht allein das Fragewort, sondern zusätzlich die An- oder Abwesenheit des Hilfsverbs ausreichend klar macht, worauf die Frage abzielt. Diesen Sprachwandelprozess sieht man besonders schön bei Shakespeare: Dieser verwendet in seinen Werken noch beide Möglichkeiten in Fragen und verneinten Sätzen. Doch kurz nach Shakespeare hat sich der do-Support als Standradform durchgesetzt.

Mit der obligatorischen SVO-Stellung hat sich zusätzlich das Adjazenzprinzip etabliert. Das bedeutet, dass ein Objekt/Komplement nicht von dem lexikalischen Verb, das es regiert, getrennt werden darf, was allerdings geschähe, würde man ein Vollverb mit not verneinen.

Hoffe, das hilft dir weiter.

filmfan69 
Fragesteller
 11.07.2023, 12:19

Ein ganz großer Dank dir für diese tolle, ausführliche Antwort! Da oute ich mich im Englischen womöglich regelmäßig als Fossil, weil ich die Form "whom" ständig verwende :)

Als ich mich vor Jahren im Studium mit der Textkritik des Neuen Testaments befasst habe, bei der es darum geht zu ermitteln, welche der zahlreichen Codices und sonstigen Handschriften wahrscheinlich die ursprünglichste Fassung eines Textes wiedergibt, wurde uns die linguistische Grundregel "lectio difficilior probabilior" beigebracht, die besagt, dass man deswegen bei der komplexeren Lesart wahrscheinlich näher am Original ist, weil Sprache tendenziell dazu neigt, sich im Laufe der Zeit von komplexerer zu simplerer Grammatik und Morphologie zu entwickeln. Deswegen habe ich mich immer gefragt: warum hat es sich im Englischen dann an der Stelle umgekehrt entwickelt ("what say you" wäre ja simpler als "what do you say" und ebenso wäre "I know not" simpler als "I don't know"). Aber mit deinen Hinweisen auf den Verlust von Eindeutigkeit aufgrund fehlender Flexionsendungen und das Adjazenzprinzip ergibt es absolut Sinn. Dein Beitrag erinnerte mich wieder daran, dass mir vor einiger Zeit ein Linguist sagte, dass die Tendenz zu Vereinfachung innerhalb einer Sprache nicht unenendlich so weitergehe. Vielmehr etablierten sich neue Komplexitäten, wenn sich andere Dinge so vereinfacht hätten, dass Eindeutigkeit oder andere linguistische Erfordernisse nicht mehr hinreichend gewährleistet würden.

Eine interessante Frage wäre, ob die deutschen Dialekte, in denen man etwas machen tut, ähnliche linguistische Merkmale wie das Englische aufweisen.

Das Adjazenzprinzip würde ja auch erklären, warum das Englische im Unterschied zu allen anderen germanischen Sprachen nicht die obligatorische Subjekt-Prädikat-Inversion kennt, wenn dem dem Subjekt ein anderer Satzteil vorangestellt wird. (Dt. Ich sehe dich - Dann sehe ich dich, schwedisch: jag ser dig - sedan ser jag dig.....etc.) Damit wäre das Adjazenzprinzip ja nicht mehr möglich.

Ich vergleiche gern das Englische mit dem Schwedischen, weil letzteres sich bei ähnlicher Formenarmut trotzdem eine flexiblere Syntax leistet. Es hat ja auch weiter keine Fälle und sogar pro Tempus nur eine Verbform (da hat das Englische ja immerhin im Präsens zwei). Aber vielleicht sind es im Schwedischen gerade die entscheidenden Formen, die dann doch nicht fehlen, so kann es zum Beispiel bei Substantiven zwischen Singular- und Pluralartikel und bei Verben zwischen Infinitiv und flektierter Präsensform unterscheiden. Vielleicht lag es am Zeitpunkt. Zwischen Selma Lagerlöf (*1858) und Eyvind Johnson (*1900) verschwinden gleich mehrere Verbformen. Das ist ja viel später als im Englischen und vielleicht wurden ja durch beginnende Massenmedien wie Zeitungen zahlreiche Floskeln und ihre Syntax so etabliert und gemainstreamt, dass sie sich auch bei Wegfall von Flexionsendungen nicht mehr verändert haben. Vielleicht liegt es auch an der Rigidität des Systems Schule im 19. Jahrhundert, dass es sich normierender auf Sprache ausgewirkt hat - und es konnten sich kleine Verbendungen leichter ändern als große Satzstrukturen.... Gewagte These, ich weiß, aber eine andere Erklärung fällt mich nicht ein.

Bist du sicher, dass das Englische bereits im Mittelalter die Flexionsendungen weitgehend verloren hat? G.F. Händels berühmtes Oratorium "The Messiah" von 1742 verwendet jedenfalls eine Fassung der King-James-Bibel, die gespickt ist mit Flexionsendungen.

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verbosus  11.07.2023, 17:22
@filmfan69

Hallo, ja beim Zeitpunkt des Flexionsendungsverlusts bin ich mir sicher, weil ich mich für Sprachgeschichte im Allgemeinen interessiere. Und wenn Händel sein Werk an der King-James.Bibel anlehnt, dann ist es nicht erstaunlich, dass er entsprechend alt- bzw. frühmittelenglische Formen verwendet. Diese waren allerdings im Englischen bereits außer Gebrauch gekommen, was man auch in Romanen aus dem 18, Jahrhundert feststellen kann. Die Subjekt-Verb-Inversion ist eigentlich typisch für germanische Sprachen, ist aber im Englischen nur noch in Ansätzen zu finden. Nennt man übrigens V2-Satzstellung (= finite Verbform ist das zweite Satzglied, unabhängig vom ersten). Meines Wissens sind zwar "wer" und "wen/wem" im Schwedischen identisch, aber dafür können sie zum Beispiel noch du und dig (wird doch im Schwedischen so geschrieben, oder ist das gerade Norwegisch ...? - egal) unterscheiden, was beim englischen you nicht der Fall ist. Vielleicht hat die Entwicklung der englischen Syntax entsprechend die Ersetzung von thou und thee begünstigt, da ja die Position im Satz klar macht, ob wir es Subjekt-you oder Objekt-you zu tun haben. Auch Shakespeare hat ja noch thou und thee verwendet. Und dazu noch die Verbendung -(e)st für die zweite Singular, deren endgültiger Niedergang zusätzlich der Verwendung von you zu verdanken sein dürfte, da thou viel stärker mit dieser Endung verknüpft war, was man auch schön in den von adabei genannten Shakespeare-Zitaten sehen kann. Dass im Deutschen die Personalendungen noch so vital sind - obwohl die obligatorische Setzung der Subjektspronomina diese eigentlich überflüssig macht -, könnte vielleicht auch an unserem doppeldeutigen "sie" liegen. Das sie-Problem stellt sich im Schwedischen und Englischen ja nicht ... LG

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Sicher würden Muttersprachler den Satz "What say you" so verstehen, wie er gemeint ist. Ansonsten denke ich, dass die Verwendung von "to do" etwas mit der Wortstellung S-P-O zu tun hat, die im Englischen notwendig ist, weil es keine Fälle gibt.

Mit "What say you?" würdest du auf jeden Fall verstanden werden.

Anzunehmen, dass "What do you say?" bei der Sprachentwickung zunächst als Umgangssprache empfunden wurde, bevor es sich durchgesetzt hat.

Das "do" als Hilfverb hat nur eine syntaktische Funktion. Es markiert die Verneinung und die einfache Frage, wenn man nach dem Objekt fragt.

Bei Shakespeare hat es noch "What say you?" oder "What think'st thou?" gelautet.

https://www.goodreads.com/quotes/1157504-what-say-you-can-you-love-the-gentleman-this-night

Bild zum Beitrag

 - (Grammatik, Syntax, Semantik)
Von Experten adabei und indiachinacook bestätigt

Angelsächsisch vermied in der Regel so ein Hilfsverb, zumindest in der geschriebenen Form:

Did you not sow good seed in your field?     (Englisch)
    Ne seowe þu god  sæd  on þinum æcere?  (Angelsächsisch)
(Nicht sätest du gute Saat auf deinem Acker?)

(Angelsächsisch kannte noch den Dativ!)

Irgendwo zwischen der angelsächsischen Periode (bis 1100) und der Shakespeare-Zeit (16./17. Jahrhundert) kam das Hilfsverb hinein. Allerdings hat Shakespeare noch beide Varianten gemischt benutzt.

Noch bei Shakespeare: "I know not." (heute: "I don't know.")
Allerdings aber auch schon: "Good sir, why do you start and seem to fear things that do sound so fair?"

In der alten King James Bible (1611): "And the light shineth in darkness, and the darkness comprehended it not" (heute: "... didn't comprehend it.") Die Wortstellung war (in diesem Beispiel) damals wie im Deutschen.

Vermutlich dauerte es bis nach 1600, bis sich "don't" oder "didn't" in verneinten Sätzen konsequent durchgesetzt hatte (oder "do you...?"). Wobei es Ansätze dazu wohl schon zuvor gab. Möglicherweise gab es das schon in angelsächsischer Zeit, wurde aber nicht geschrieben, da es als schlechter Stil galt?!

https://en.wikipedia.org/wiki/Do-support

Manche sagen, es könnte auch ein Einfluss keltischer Sprachen gewesen sein.
Nehmen wir mal Walisisch:
Ydych chi eisiau mynd adref?
Do    you want  to go home?

Dieses Hilfsverb erinnert mich auch stark an "Ruhrdeutsch", dort hört man Sätze wie "ich tu mich hier schminken" oder "tu ma die Omma winken!".

filmfan69 
Fragesteller
 11.07.2023, 12:27

Danke dir sehr für diesen tollen, sehr kenntnisreichen Beitrag, von dem ich manches gelernt habe! Ja, an Ruhrdeutsch und Schwäbisch mit dem vielen "Tun" muss ich beim Englischen auch oft denken, wo ich mich genauso frage, warum gerade in der Umgangssprache das kompliziertere "tust du das mal weglegen" das einfachere "legst du das mal weg" ersetzt. Und zu meiner eigentlichen Frage nach dem Warum, welche Gründe wohl dazu geführt haben mögen, dass der do-support die Standardform ohne Hilfswerk immer mehr ersetzt hat, hat der Nutzer verbosus ja großartig geantwortet.

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jemand mit rudimentären Englischkenntnissen würde in England oder iin den USA in einem Gespräch sagen: what say you? Glaubt ihr, dieser Mensch würde, abgesehen davon, dass er sich sofort als Nicht-Muttersprachler outet, verstanden werden

Klar würde dieser verstanden werden.

Das Verb "to do" hat nicht unbedingt eine tiefere Bedeutung. Es ist da, weil so nun mal die englische Sprache funktioniert. Bei den meisten Sprachen gibt es Aspekte, die ohne Sinn und Zweck sind, aber ohne die man sich die Sprache nicht mehr vorstellen kann.

Btw würde ich diesen Satz eher weniger als "What do you say?" übersetzen, sondern "What are you saying?" sagen.

Woher ich das weiß:Hobby – Spaß an Sprachen lernen