Erfahrungen Kinderheim?

nanninna  21.08.2023, 15:07

Leider habe ich mit Heimen keinerlei Erfahrung und kann Dir nicht helfen, aber ich finde, Ihr habt super gute, durchdachte Fragen.

luvlilou 
Fragesteller
 21.08.2023, 15:19

Danke <3

2 Antworten

Na dann will ich mal, als ehemaliges Heimkind (Wohngruppe), auch wenn es schon eine Weile her ist (1996-2002, im Alter von 12-18). Die Fragen, auf die ich keine sinnvolle Antwort weiß, lasse ich aus.

2. Wurdet ihr je ausgeschlossen weil ihr aus dem Kinderheim kommt? Wenn ja wie und wo?

In der Hauptschule (Schulstufe 5-8, österreichisches Schulsystem) wurde ich massiv gemobbt. "Heimkinder" waren bei uns im Ort - eine kleine 5000-Einwohner-Gemeinde - generell eine geächtete Spezies, niemand wollte mit ihnen etwas zu tun haben, was aber insofern zu einem gewissen Grad nachvollziehbar war, weil wirklich einige Kinder und Jugendliche dabei waren, die permanent Ärger gemacht haben. Für jene, die nicht aufgrund ihrer Verhaltensauffälligkeit sondern aus anderen Gründen (bei mir: Tod der Eltern) in der Wohngruppe waren, galt dann quasi, mitgehangen - mitgefangen.
In der weiterführenden Schule (HTL) in einer anderen Stadt habe ich mir dann all die Jahre über größte Mühe gegeben, dass niemand meiner Mitschüler etwas von meinem Heimkinddasein erfährt. Das war oft gar nicht so einfach, und in manchen Situationen war meine Schlagfertigkeit gefragt, von jetzt auf gleich eine glaubwürdige Notlüge aus dem Ärmel zu schütteln und mich dabei nicht in Widersprüche zu verstricken. Ich habe es geschafft, in den ganzen 4 Jahren hat keiner meiner Mitschüler erfahren, dass ich im Heim lebe.

3. Welche Freiheiten und welche Verbote gab es? ( zum Beispiel wie lange abends aus bleiben)

Ich würde mal sagen, das war relativ normal und vergleichbar mit durchschnittlich strengen Regeln in einer Familie. Wenn Interesse besteht, kannst du dich per PN bei mir melden, ich habe hier noch die WG-Regeln (Stand 2001) auf meinem PC gespeichert, die kann ich dir gerne in einer anonymisierten Form zukommen lassen. Da steht das alles drinnen.
So grundsätzlich waren die Regeln natürlich auch verhaltensabhängig. Ich war die ganzen Jahre über ein vorbildliches Kind/Jugendlicher, dementsprechend wurden die Regeln bei mir eher großzügig ausgelegt, ich hatte mit der Zeit gewisse Privilegien, die andere, "weniger vorbildliche" BewohnerInnen nicht hatten (z.B. eigener PC und Fernseher im Zimmer, ab 16 quasi unbegrenzten Ausgang).

4. Wurdet ihr gemobbt auf Grund dieses Hintergrundes?

Siehe Frage 2

5. Wie sah es mit Freunden außerhalb des Heimes aus? Durftet ihr besucht werden? Wie lief das ab?

Wenn das Verhalten und Vertrauen passt, war es überhaupt kein Problem, sich mit Freunden außerhalb des Heimes zu treffen oder ab und an auch mal dort zu übernachten. Besuch von Freunden im Heim war zwar weniger gerne gesehen, wenn es aber nur gelegentlich vorkam und alles gepasst hat, wurde auch das erlaubt.

Jeder 2. Wochenende war ein Heimfahrtswochenende. Da durften alle, die irgendwelche Angehörigen hatten und bei denen die entsprechenden Voraussetzungen gegeben waren, dann eben zu diesen fahren. Die kurzen Ferien (Ostern, Weihnachten, etc.) durfte man auch bei Angehörigen verbringen, und in den Sommerferien einige Wochen.
Besuch von Angehörigen in der Wohngruppe bzw. ein Treffen mit Angehörigen außerhalb der Heimfahrtszeiten war nicht erlaubt.

6. Regeln für Medien? ( Geräte wie Handy, Computer aber auch dasein auf social Media)

Bei dieser Frage bitte das Zeitalter bedenken, wir reden hier von vor 20-25 Jahren, da gab es weder Smartphones noch Social Media, das Internet steckte noch in den Kinderschuhen und auch (normale, einfache) Handys eroberten genau zu der Zeit so langsam den Massenmarkt. Die diesbezüglichen Regeln sehen heute sicherlich anders aus, als damals.
Handy war immer eine Einzelfallentscheidung, dafür gab es keine generellen Regeln. Prinzipiell konnte man ab Beginn einer Berufsausbildung darüber diskutieren, ein Handy zu haben, davor wurden Handys abgenommen und nur für Heimfahrtswochenenden ausgehändigt. Mir wurde mein erstes Handy mit 15 bewilligt.
Es gab einen Gemeinschafts-PC mit Internetanschluss, den man nach ausdrücklicher Erlaubnis durch die Erzieher nutzen durfte. Eigene PCs/Laptops gab es nur in Ausnahmefällen, ich war so ein Ausnahmefall und hatte ab 15 einen eigenen PC, ab 17 dann sogar mit Internetanschluss (ein Internetzugang war damals noch nicht in jedem Haushalt selbstverständlich, wir sind hier im Jahr 2001).
Für Fernseher gilt das gleiche, im Wohnzimmer gab es einen Fernseher den man nach Erlaubnis nutzen durfte (üblicherweise 1-2 Stunden am Tag), eigene Fernseher im Zimmer wurden ebenfalls nur in Ausnahmefällen genehmigt. Hifi-Anlage, Radio, CD-Player und dergleichen war ohne Einschränkungen erlaubt.
CB-Funk (ja, das war damals in den 90ern noch ein Thema für Jugendliche) war grundsätzlich auch erlaubt, das Anbringen von Außenantennen nur im Einzelfall mit Genehmigung.

7. Wie war das Zusammenleben mit den anderen Kindern und Betreuern?

Für mich: Angenehm. Bin mit fast allen sehr gut ausgekommen, manche Freundschaften sowohl mit Erziehern als auch Bewohnern bestehen bis heute.

8. Wie war das ankommen und Einziehen ins Kinderheim?

Furchtbar. Kann man sich denke ich vorstellen, wie es für ein 12-jähriges Kind ist, wenn die Eltern plötzlich sterben und man in ein Heim gebracht wird.

9. Wie war das ausziehen und besonders das integrieren als Erwachsener in die Gesellschaft?

Mit 18, nach Abschluss der Berufsausbildung, wurde seitens der Erzieher bzw. des Jugendamtes eine Wohnung in einem Ort oder einer Stadt der Wahl gesucht und beim Umzug und der Einrichtung der Wohnung geholfen. Danach gab es noch einige Monate Nachbetreuung.

11. Wie sah es mit Hobbys und Freizeitgestaltung aus?

Sehr angenehm. Hobbys wurden gefördert, an schulfreien Tagen gab es immer eine Gemeinschaftsaktivität (Ausflüge, Wandern, Sport, Kino, Schwimmbad, See, Freizeitpark, Museum, Städtetrip, was auch immer).

12. Was war mit dem ausfüllen von Dokumenten?

Die Frage verstehe ich nicht ganz. Wenn irgendwelche schulischen Angelegenheiten zum Ausfüllen oder Unterschreiben waren, haben das die Erzieher gemacht. Bei großen Entscheidungen (Anmeldung zur Schule, etc.) war auch die Heimleitung involviert.

15. Wie lief der Urlaub ab?

Toll. Es gab jedes Jahr einen gemeinsamen Sommerurlaub, meist so um die 2 Wochen. Sind dann meistens nach Italien oder Kroatien gefahren, manchmal war es auch ein Heimaturlaub in einem anderen Teil Österreichs, einmal haben wir eine Hollandreise auf einem Hausboot gemacht, einmal waren wir in Deutschland...

Wer die Möglichkeit hatte, durfte daneben in den Sommerferien dann auch für mehrere Wochen zu Angehörigen fahren.

Zusätzlich gab es dann in manchen Jahren auch noch einen Schi-/Snowboardurlaub im Winter in den Weihnachtsferien.

16. Wie waren Geburtstage?

Daran kann ich mich gar nicht mehr so erinnern, eher unspektakulär, Happy Birthday singen, Torte essen und Geschenk überreichen. Zu Geburtstagsgeschenken siehe nächster Punkt. Wer wollte, durfte selber eine Geburtstagsparty veranstalten und Freunde einladen.

17. Wie sah es mit Taschengeld aus? (Wie viel und was habt ihr damit gemacht?)

Es gab so lange man kein eigenes Einkommen hatte Taschengeld, die Höhe dürfte in etwa im Bereich der generellen Empfehlungen gelegen haben, dabei aber die Inflation berücksichtigen.

Bei mir gab es dann aber noch eine Besonderheit: Ich war bis dahin in der Geschichte dieser Einrichtung der einzige Heimbewohner, der nach der Pflichtschule eine weiterführende höhere Schule besucht hat, das gab es davor noch nie, alle haben immer nach der Pflichtschule eine Lehre gemacht und hatten dann dementsprechend ein eigenes Einkommen. Die Lehrlingsentschädigung (für die Deutschen: Azubigehalt) wurde dabei zur Hälfte verpflichtend angespart, die Hälfte hatte man zur freien Verfügung. Damit ich dafür, dass ich statt einer einfachen Lehre eine höhere Schule besuche, nicht "bestraft" und gegenüber den anderen Jugendlichen massiv benachteiligt werde, gab es dann für mich einen außerregulären großzügigen Taschengeldzuschlag.

Ja, was ich mit dem Taschengeld gemacht habe, ich würde mal sagen, dem Alter entsprechend, was man halt so üblicherweise mit seinem Taschengeld macht. Süßigkeiten, Zeitschriften, CDs/MDs, ab 16 dann auch schon mal ein bisschen Party, Alkohol, Zigaretten (ja, rauchen war damals noch ab 16 erlaubt). War aber generell sehr sparsam mit dem Taschengeld, habe immer viel zusammengespart, um mir dann größere Wünsche erfüllen zu können.

Weihnachten und Geburtstag gab es Geschenke. Man konnte sich um einen festgelegten Betrag etwas wünschen, und das wurde dann gekauft, bzw. ging man mit den Kindern/Jugendlichen gemeinsam Geschenke shoppen, das wurde dann eingepackt und bei der gemeinsamen Feier überreicht.
Je Anlass (Geburtstag und Weihnachten) waren grundsätzlich 500 Schilling für das Geschenk vorgesehen (umgerechnet und inflationsbereinigt sind das heute ca. 65€). Für Waisenkinder gab es deutlich mehr, nämlich 1500 Schilling (entspr. heute rund 200€). In Einzelfällen war es auch möglich, selber vom zusammengesparten Taschengeld etwas draufzulegen und sich dann etwas teureres zu kaufen, diese Möglichkeit habe ich öfter mal in Anspruch genommen.

18. Was war auch mit anderen Produkten wie zum Beispiel Make-up, Klamotten, Spielzeug ect.?

Übliche Hygieneartikel wurden vom Heim kostenlos zur Verfügung gestellt, man musste nur zu den Erziehern gehen und sagen, ich brauche bitte ein neues Duschgel, Zahnbürste, Zahnpasta, Rasierer, Tampons, was auch immer. Es gab einfache, normale Massenware vom Diskonter, wenn jemand jetzt ein spezielles Markenduschgel o.ä. haben wollte musste man sich das selber vom Taschengeld kaufen.

Für Bekleidung gab es einen jährlich festgelegten Betrag, den jeder zur Verfügung hatte. Es gab gemeinsame Shoppingtage zum Einkaufen von Bekleidung, bei jenen bei denen die Gefahr bestand dass sie das Geld für unsinnige oder überteuerte Dinge ausgeben gingen die Erzieher mit, die vertrauenswürdigen Jugendlichen bekamen einfach das Geld, konnten alleine shoppen gehen und mussten dann nur die entsprechenden Kaufbelege sowie eventuelles Restgeld abgeben.

Andere notwendige Dinge (Schulsachen, Schulausflüge, Fahrkarten, etc.) wurden auch vom Heim bezahlt.

Spielzeug, technische Geräte und dergleichen musste man sich selber kaufen, von daheim mitbringen, schenken lassen oder was auch immer. Dafür gab es Taschengeld, Weihnachten, Geburtstag, Angehörige, etc.
Bei Make-Up bin ich mir jetzt gar nicht sicher, als Junge war das für mich nicht relevant, ich meine aber, das musste man sich auch selber kaufen.

Ja, ich hoffe, ich konnte dir damit weiterhelfen. Bei weiteren Fragen einfach melden ;-)

luvlilou 
Fragesteller
 21.08.2023, 19:51

Vielen, vielen Dank!! Das hat uns wirklich weitergeholfen. Wir freuen uns gerade so sehr! :)

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daedag  21.08.2023, 20:16
@luvlilou

Gerne. Wie gesagt, wenn ihr die WG-Regeln von damals in schriftlicher Form haben wollt, könnt ihr mir gerne schreiben, da steht dann genau drinnen, was wann wie wo erlaubt war oder nicht.

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Auch musste als Kind einige Jahre im Heim verbringen. Meine Geschichte liegt schon über 30 Jahre zurück und Inklusion so wie heute gab es damals noch nicht. Vielleicht interessierst du dich trotzdem für meine Erinnerungen, du findest sie unter: kinderheimerfahrungen.org