Das Stabilitätsparadoxon: Warum die Dummen siegen
Ich definiere das Stabilitätsparadoxon als die Dynamik, in der zwei Überzeugungen X und Y, die jeweils als funktional stabilisierend angesehen werden, aufeinandertreffen. Wenn ich X vertrete und der andere Y, entsteht folgende Logik:
- X -> meine subjektive Stabilität (jene Überzeugungen die mir Stabilität in der Realität versprechen)
- Y -> seine subjektive Stabilität (jene Überzeugungen die ihm Stabilität in der Realität versprechen)
- Konflikt ist unvermeidlich, solange beide Überzeugungen exklusiv (unvereinbar) sind. Jeder sieht den anderen als Gefahr für seine Weltordnung. Die Überzeugung, was Stabilität sichert, wird zur existenziellen Frage. Denn wenn der andere sich durchsetzt, könnte meine Welt zusammenbrechen.
Nun kommt es zu Zweifel bei X.
Ursache des Zweifels:
Wenn du selbst überzeugt handelst, kannst du trotzdem falsch liegen und mit deinem Handeln nicht nur deine eigene, sondern auch die kollektive Stabilität zerstören. Doch ohne Handeln bleibst du passiv, während der andere seine Überzeugung durchsetzt und damit deine Welt bedroht.
Das Kernproblem:
- Handeln aus Überzeugung ist notwendig, um Stabilität zu schaffen.
- Dysfunktionale Überzeugungen können katastrophale Folgen haben.
- Doch wenn man nicht sicher wissen kann, ob X oder Y oder Z (meinetwegen das ganze Alphabet) funktional sind, entsteht Lähmung durch Angst, da das eigene Handeln ungewollt alles destabilisieren kann.
- Zweifel entstehen aus der Spannung zwischen der Notwendigkeit zu handeln und der Unmöglichkeit, absolute Sicherheit über die Funktionalität des eigenen Narrativs zu erlangen.
Das Drama:
Wenn X beginnt, an sich selbst zu zweifeln, weil X erkennt, dass auch seine eigene Überzeugung falsch sein könnte, führt dieser Zweifel zur Destabilisierung von X. Gleichzeitig erkennt X, dass das gleiche Risiko des Irrtums auch für Y gilt doch Y selbst reflektiert das nicht und bleibt unbeirrt in seiner Überzeugung.
Dieser Zweifel von X wird von Y jedoch nicht als Chance für gegenseitiges Hinterfragen erkannt, sondern als Bestätigung der eigenen Richtigkeit: Y deutet X’ Unsicherheit als Beweis, dass Y "im Recht" ist. Obwohl objektiv weder X noch Y bewiesen hat, funktional richtig zu sein, wächst so die Macht von Y.
- Der Zweifel von X macht ihn handlungsunfähig.
- Die scheinbare Stärke von Y verschafft Y Dominanz.
- Y gewinnt den Kampf, nicht weil er die funktional richtige Überzeugung hat, sondern weil X’ Zweifel ihn schwächt und Y das als Beweis für seine eigene Stabilität interpretiert.
Die Ursache des Zweifels, X’ Fähigkeit, die eigene Position kritisch zu reflektieren und die Metaebene zu sehen ist im Konflikt irrelevant, weil Y diese Metaebene weder versteht noch anerkennt. Sie hat keine Wirkung auf Y.
Das fatale Ergebnis:
So gewinnen Narrative an Macht, nicht weil sie wahr oder funktional sind, sondern weil sie Zweifel beim Gegner erkennen und als Schwäche ausnutzen. Das führt dazu, dass Narrative siegen, die blind und überzeugt auftreten, selbst wenn sie alles in den Untergang reißen.
X, der diese Metaebene versteht, sieht das kommende Desaster, kann es aber nicht verhindern. Das lässt ihn in Ohnmacht, Leere und Sinnlosigkeit zurück.
Wie ist eure Sichtweise dazu? Wie würdet ihr das Stabilitätsparadoxon lösen? Oder habt ihr vielleicht eine ganz andere Sichtweise darauf?
2 Antworten
Deine Sichtweise ist richtig, soweit es geht und zugleich ist sie auch falsch, nämlich dann, wenn es nicht weitergeht.
Solange wie sich X und Y als Konkurrenten gegenüberstehen, sind Konflikte unvermeidlich. Tatsächlich ist man jedoch immer wieder aufgefordert, sich jeweils in die Sichtweise des Anderen hineinzuversetzen, so dass ein konstruktiver Dialog entsteht und aus den Gegensätzen von X und Y ein gemeinsames Z auf einer höheren Ebene entsteht.
Es ist die Bestimmung des Menschen, die Gegensätze richtig zu erkennen, erstens nämlich als Gegensätze, dann aber als Pole einer Einheit. Hermann Hesse
Für Menschen die die Wahrheit suchen (Philosophen) spielt das Gewinnen der Diskussion keine Rolle. Hauptsache man kommt der Wahrheit näher. Aber ich gebe zu, dass es für einen Nicht-Philosophen oft so aussieht als wenn es ein Kampf der Überzeugung seiner Meinung ist. Das liegt an Gefühlen sie Stolz, Peinlichkeit, Schutz seiner eigenen Meinung über sich oder sein Thema oder Sicherheit im sozialen System.
Ich habe auf diese Fragen von Dir geantwortet: Wie ist eure Sichtweise dazu? Wie würdet ihr das Stabilitätsparadoxon lösen? Oder habt ihr vielleicht eine ganz andere Sichtweise darauf?
Wenn Du u. a. danach fragst, wie das Paradoxon zu lösen ist, schließt dies aus meiner Sicht auch die Möglichkeit ein, es zu lösen, wozu in diesem Fall der beschriebene Zuwachs an Reife erforderlich ist.
Es gibt keine Lösung für ein Paradoxon, das auf der Unvereinbarkeit subjektiver Stabilitäten basiert.
Jeder Mensch bringt sein eigenes mentales Modell, seine Ängste, seine Erfahrungen mit und damit auch unterschiedliche Perspektiven auf das Thema. Das war es was mich interessiert hat.
Das Paradoxon ist kein Rätsel, das man knacken kann, sondern eine Realität, die man akzeptieren und navigieren muss. Wer glaubt, er könne es mit Reife oder Harmonie "auflösen", hat nicht verstanden, dass der Kern des Paradoxons gerade die Unfähigkeit ist, absolute Einigkeit zu erreichen.
In meiner Position setze ich die absolute Einigkeit mit der Realität selbst gleich und in die Richtung zeigt unser bestreben während unserer Entwicklung. Es liegt aber in der Natur der Sache, dass wir den Realitätspunkt selbst nie erreichen können und deshalb wird es immer Konflikte geben.
Meine Überzeugung ist, dass es eine objektive Realität geben muss. Ohne sie wären alle Überzeugungen beliebig, und jeder Konflikt um Stabilität oder Wahrheit sinnlos. Deshalb glaube ich, dass alle menschlichen Überzeugungen – egal ob X, Y oder Z – letztlich versuchen, sich dieser Realität anzunähern, indem sie sich im Kampf oder im Kompromiss behaupten.
Doch weil jeder Mensch mit einem eigenen mentalen Modell, eigenen Ängsten und Wahrnehmungen lebt, ist es unmöglich, die objektive Realität vollständig zu erfassen. Deshalb können sich Überzeugungen dieser Realität nur asymptotisch annähern: wie eine mathematische Funktion, die sich einem Grenzwert immer weiter nähert, ihn aber niemals exakt erreicht.
So erklärt sich, warum absolute Einigkeit unter Menschen unerreichbar bleibt. Erst wenn alle denselben Grenzwert, also die Realität selbst exakt erkennen würden, wäre völlige Harmonie möglich. Doch solange unsere Wahrnehmung begrenzt bleibt, wird es immer Überzeugungen geben, die um Dominanz ringen oder versuchen, Kompromisse zu erzwingen.
Doch Weg zur Realität ist kein gleichmäßiges Konvergieren wie bei einer Funktion, sondern ein chaotisches Schwingen um sie herum.
Aus meiner Sicht und meinen Erfahrungen, gibt es sicherlich Menschen, die über die Realität des Paradoxons nicht hinauskommen, vielleicht weil sie zu sehr davon überzeugt sind das es keine Lösung gibt. Zunehmende Reife kann sie allerdings unerwarteterweise irgendwann eines Besseren belehren.
Ha Ha Ich stimme Absolut zu und denke dass du Dir die Frage auch selbst beantworten kannst. Aber der Denkanstoß ist wunderbar. Genau dieses Dilemma habe ich jetzt in vielen Themen. Oder eher, dass niemand bereit ist darüber nach zu Denken was dazu führt dass man diese Gedanken nicht austauschen kann. (Gutefrage.net mal ausgenommen)
Allein solch ein Tiefgründiges Denken bewirkt bei den meisten aus meiner Erfahrung eher das sie abschalten oder wütend werden und sich selbst unverstanden fühlen (bei Freunden & Bekannten) oder sich Schützen. Man braucht schon jemanden der selber in der Metaebene denkt. Ansonsten führt so ein Denke zu Isolation und vielleicht auch Depression.
Hier kann man gut diskutieren aber in meiner kleinen realen Welt ist es besser vieles zurück zu halten.
Wenn es aber zu wichtig ist, sollte man gut vorbereitet sein und am besten eine schriftliche Ausarbeitung schreiben um auf alle oder die meisten Wiedersprüche vorbereitet zu sein.
Allerding ist es viel zu anstrengend es in allen Themen zu tun.
Ich versuche eher, im privaten Bereich, den Rückzug bis jemand in der Lage ist so Tief denken zu können. Das ist psychisch gesünder für mich.
Liebe Grüße und gut formuliert ;)
Danke für deine ehrliche Antwort, es ist selten, dass jemand so offen beschreibt, wie schwer es ist, tiefes Denken in einer oberflächlichen Welt zu leben. Aber ich möchte dir auch sagen: Der Rückzug mag kurzfristig entlasten, doch auf Dauer führt er oft zu Einsamkeit, Bitterkeit oder Zynismus, weil deine Gedanken keinen Raum finden, um sich zu entfalten.
Ich sehe das wie ein erweitertes Dramadreieck: Neben Retter, Opfer und Täter gibt es den Mitwisser und als Denker auf der Metaebene bist du genau dieser Mitwisser. Du siehst, wie das Drama abläuft, wie sich Opfer und Täter gegenseitig stabilisieren und wie Retter es unbewusst verlängern. Aber wenn du deine Klarheit nicht einsetzt, sondern schweigst, wirst du zum Teil des Dramas du lässt es zu, dass Missbrauch und Lügen weitergehen.
Tiefe Erkenntnis ist nicht neutral: Sie verpflichtet. Wenn du sie hast und nichts daraus machst, schützt du dich nicht wirklich du machst dich mitschuldig, ob du willst oder nicht.
Wenn du es ernst meinst, musst du dir bewusst sein: Tiefe fordert Handlung oder sie wird dich irgendwann von innen zerstören.
Das ist leider die Realität... fast wie ein Fluch. Verantwortung ist wirklich kein Zuckerschlecken. Du musst harte Entscheidungen treffen und jede Entscheidung hat seinen Preis.
Wie oft ich schon daran verzweifelt bin....
Hermann Hesse ist ein schönes Ideal, aber es geht an der Realität des Paradoxons vorbei.
Mit dem Paradoxon beschreibe ich die Metaebene. Die Reflexion über die Möglichkeit, dass X oder Y falsch sein könnte. Bei X erzeugt dies Zweifel, während Y unbeirrt bleibt und dadurch gewinnt.
Das Paradoxon entsteht, weil Y keinen konstruktiven Dialog sucht oder reflektiert und genau das ist der reale Unterschied zwischen X und Y.
Der Hesse-Ansatz funktioniert nur, wenn beide Seiten gewillt und fähig sind, sich auf Z zuzubewegen. Wenn Y stur bleibt, führt X’ Versuch zur Synthese nur zur Selbstschwächung von X.
Das Paradoxon beschreibt also gerade den Fall, dass diese "Einheit" nicht entsteht, weil Asymmetrie im Zweifelverhalten existiert.
Dein Ansatz ist ein ehrenwertes Ideal, aber keine Lösung des Stabilitätsparadoxons, auch wenn beide Seiten Stabilität als Ziel haben. Er übersieht, dass einseitige Reflexion (nur bei X) zur Dominanz des Unreflektierten (Y) führt, denn der Zweifler wird im Dialog schwächer, wenn der andere stur bleibt.
Ein konstruktiver Dialog ist in diesem Fall unmöglich, weil mindestens einer seine Überzeugung oder Teile davon aufgeben müsste. Doch genau das kann er nicht, da er aus seiner Perspektive überzeugt ist, dass diese Überzeugung die notwendige Grundlage seiner Stabilität ist und ein Aufgeben für ihn den Verlust seiner Ordnung bedeuten würde.