Guten Abend,
eigentlich finde ich die "Jetztzeit" ganz in Ordnung. Es gibt sicher Baustellen, aber man muss die Dinge weder beschönigen noch muss man sie schlecht reden.
Manchmal habe ich mich aber schon gefragt, wie es wäre, wäre ich im Deutschland Mitte der 90er so um die 30 gewesen (bin 31). Wahrscheinlich hätte ich einen Ford Granada oder einen Opel Senator oder Mercedes W123 (hatten wir in den 90ern selber, die Farbe nannte sich "Liasgrau" und sah aus wie Grundierung) gefahren und wäre ziemlich so gewesen, wie mein Patenonkel damals tatsächlich war (wir sind uns sehr ähnlich, er hatte aber die 90er durch ein sehr schönes Audi Coupé 2.3E).
https://www.youtube.com/watch?v=AS4cylGMoAQ
https://www.youtube.com/watch?v=LmIUoipsWl4
Ich habe die 90er so am Rande recht bewusst miterlebt, das war an sich schon eine angenehme Zeit. Es gab aber auch Probleme: Alle beklagten sich über steigende Benzinpreise und die Probleme der überstürzten Wiedervereinigung sowie der Grenzöffnung (Russlanddeutsche, Spätaussiedler, Ghettoisierung, Arbeitslosigkeit, VEB-Abwicklung) die Politik(er)verdrossenheit in der späten Bonner Republik war groß und kostete Helmut Kohl 1998 die Wiederwahl. Nicht zu vergessen wären die letzten RAF-Attentate (Detlev Karsten Rohwedder im April 1991; auch die Nachwehen von Alfred Herrhausen am 30. November 1989 lagen in der Luft) in Deutschland. Darüber machte man sich schon Sorgen, das war damals in den Medien oft zu erfahren.
https://www.youtube.com/watch?v=J-8OMiqgoas
Gut, technisch war in den 90ern allerhand los: Der ICE (1991) war natürlich cool und es gab technisch viele Neuerungen, aber andererseits muss ich auch hier sagen ... es war wie heute, nur war der Fortschritt subjektiv um einiges schneller. 1990 etwa hatte ein VW-Golf 54 PS und vier Gänge, 1993 hatte er bereits fünf Gänge, ABS, Airbags und 90 PS, das war sensationell. In Ostdeutschland war der Unterschied bezogen auf Trabant und Wartburg noch größer. Aber alles hatte seine Grenzen: Es gab Unsicherheit wegen dem Zerfall der Sowjetunion und des Jugoslawienkriegs sowie des zweiten Golfkriegs, es gab Planlosigkeit und Zukunftsängste; keiner wusste, wohin es geht, man sprach von FCKW und von Recycling, beklagte sich landauf landab über Sittenverfall - sehr schön brachte das 1993 die legendäre Spiegel-Titelgeschichte über die "schamlose Gesellschaft" auf den Punkt; soziale Brennpunkte explodierten wie auch Probleme mit Jugendkriminalität - die 90er waren nicht nur Heititeiti. Dass sie es gewesen seien, kommt einem heute vielleicht so vor. Rassismus war ebenso ein Thema, ich erinnere nur an Hoyerswerda, Mölln, wachsende Neonazi-Probleme auch aufgrund Perspektivlosigkeit vor allem in Ostdeutschland, wo man inzwischen auch klar Wendeverlierer hatte und sich Frust breit zu machen begann, weil es eben doch nicht lief, wie von Helmut Kohl versprochen ("blühende Landschaften"). Bis 1995 waren zwar Billionen D-Mark in Ostdeutschland angekommen, flossen jedoch nur in Prestigeprojekte wie Kirchen, Bibliotheken und touristisch Relevantes.
Es ist schon klar, dass die 90er so wie alles Erlebte gern verklärt werden und man heute nur noch an coole Musik, lustige Filme, kultige Automodelle, schräge Modeoutfits und schöne private Erlebnisse denkt. Aber "besser" als heute oder entspannter waren die 90er-Jahre in Deutschland nicht und ganz bestimmt nicht so lässig wie in diesem aktuellen Lied von Jasmin Wagner/Blümchen dargestellt.
https://www.youtube.com/watch?v=GZ3Kpk_9feQ
Ich habe die 90er privat zwar als cool in Erinnerung, aber da war ich auch noch Schüler und lebte weitestgehend in meiner kleinen Welt aus Familie, Kumpels, Schule und ein paar Hobbys.
Der elementare Unterschied dürfte darin liegen, dass Internet eine teure Sache war und ein typisches Handy so fett war, dass es eher ein ziegelsteingroßes, schweres "Schleppi" gewesen ist statt eines handlichen Telefons. Bildschirmtext, Fax und der TelMi-Pager waren angesagt, Telefonzellen waren Standard und Navigationssysteme waren Oberklasseautos vorbehalten, die sich der Normalbürger nicht leisten konnte. Auf der anderen Seite waren die Medien zu weiten Teilen sachlicher und seriöser, nicht alles wurde sofort anpolitisiert und die Medien kommentierten die meisten Sachverhalte nicht wie heute, sondern präsentierten sie dem Konsumenten lediglich, damit er informiert wurde.
Es bleibt daher am besten bei der Wunschvorstellung, denn an meinem aktuellen Leben möchte und muss ich nichts ändern und bin im Großen und Ganzen zufrieden.. ich bin heute wohl der Erwachsene, den ich als Jugendlicher ernst genommen hätte und habe mir viele Wünsche erfüllt, die ich selber als Schüler hatte, ist ein super Gefühl.
Wenn ich mich mal in die 90er versetzen will, kann ich mir ja ein aus der Zeit stammendes Sakko von meinem Großonkel anziehen, mich in meinen alten Benz (Jahrgang 1997, aber das Modell kam schon 1993 raus) setzen und zu 90er-Musik eine Runde drehen ... "Lucifer" von Blue System oder so was.
https://www.youtube.com/watch?v=V9CBYqu4P9U