Die wahrscheinlichste Erklärung: Kognitive Immunisierung
Sie haben bereits innere Spannungen erlebt. Zweifel, Irritationen, widersprüchliche Erfahrungen. Doch anstatt diese Zweifel offen zu reflektieren, wählen sie den Umweg über die Diskussion nicht, um den anderen zu überzeugen, sondern um sich selbst zu stabilisieren.
Das nennt man in der Psychologie kognitive Immunisierung:
Man setzt sich bewusst mit kritischen Informationen auseinander, aber nicht mit dem Ziel, sie zu verstehen, sondern um sie abzublocken.
Kognitive Immunisierung bezeichnet einen psychologischen Abwehrmechanismus:
Widersprüchliche Informationen werden zwar wahrgenommen aber nicht verarbeitet, sondern sofort innerlich abgewehrt, um das eigene Weltbild zu schützen.
Diese Abwehrstrategien äußern sich oft in vertrauten Formulierungen, die auf den ersten Blick demütig oder spirituell klingen in Wirklichkeit aber der Vermeidung von kognitiver Dissonanz dienen:
- „Wir sind alle unvollkommen auch die Brüder der Leitenden Körperschaft.“ Fehler der Leitung werden verharmlost oder entschuldigt.
- „Jehova lässt Fehler zu, um uns demütig zu halten. Zur richtigen Zeit wird er es klarstellen.“ Kritik wird in eine Glaubensprüfung umgedeutet.
- „Abtrünnige verbreiten Lügen darauf dürfen wir nicht hören.“ Kritische Stimmen werden pauschal delegitimiert.
- „Das hat Satan eingefädelt, um Zweifel zu säen.“ Kritik wird als dämonischer Angriff umgedeutet.
- „In Harmagedon wird Jehova alles richtigstellen.“ Probleme werden vertagt ohne sie aufzuarbeiten.
- „Die Welt hasst uns, weil wir die Wahrheit haben.“ Ablehnung von außen wird zur Bestätigung umgedeutet.
- „Man muss das geistige Verständnis im Gesamtzusammenhang sehen. Widersprüche werden mit theologischen Floskeln abgewehrt.
- „Es gibt doch keine bessere Gemeinschaft wir sind in der Wahrheit.“ Alternativen werden pauschal abgewertet, echte Prüfung unterbleibt.
- „Das ist ein Einzelfall wir sollten nicht verallgemeinern.“ Systemische Probleme werden individualisiert.
- „Wir müssen auf Jehova vertrauen, nicht auf Menschen.“ Verantwortung der Leitung wird spiritualisiert und entzogen.
Diese Reaktionen sind kein bewusster Betrug, sondern ein psychologischer Selbstschutz: Zweifel und Kritik werden umgedeutet, damit das Bild von der „einzigen Wahrheit“ keinen Schaden nimmt.
Je geschlossener eine Glaubensgemeinschaft ist, desto stärker wirken solche Immunisierungsmechanismen besonders dann, wenn Menschen innerlich bereits ins Wanken geraten sind.
Was dabei paradox erscheint, ist systemisch erklärbar: Gerade jene, die sich besonders kämpferisch geben, sind oft am tiefsten verunsichert.
Sie greifen zur Diskussion wie ein Ertrinkender zum Strohhalm nicht, weil sie etwas retten wollen, sondern weil sie selbst Halt suchen.
Der französische Sozialforscher Serge Moscovici sprach in diesem Zusammenhang von einer „sozialen Repräsentation in Bedrängnis“:
Die eigene Weltdeutung wird durch Außenreize erschüttert man verteidigt sie deshalb umso stärker, um die kollektive Identität zu schützen.
Die Verteidigung der „Wahrheit“ in Online-Debatten ist psychologisch betrachtet kein Zeichen von Stärke oder Überzeugung, sondern oft ein Ausdruck innerer Fragilität.
Wer mit Ex-Zeugen diskutiert, riskiert nicht nur offizielle Sanktionen sondern zeigt, wenn man genau hinschaut, die Risse im eigenen Glaubensgebäude.