Wieso schaffte es Deutschland bis 1871 nie, ein Königreich oder Staat zu werden?

5 Antworten

Von Experte Udavu bestätigt

Die Geschichte Deutschlands bis zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs im Jahr 1871 war geprägt von einer Vielzahl von politischen, kulturellen und territorialen Fragmentierungen. Es gab verschiedene Gründe, warum Deutschland vor 1871 kein einheitlicher Staat oder Königreich wurde.

Zum einen gab es im Heiligen Römischen Reich eine starke Dezentralisierung der Macht. Das Reich bestand aus einer Vielzahl von unabhängigen Territorien, wie Königreichen, Herzogtümern, Fürstentümern und freien Städten, die alle ihre eigenen Interessen und Ansprüche hatten. Es fehlte eine starke zentrale Autorität, die in der Lage gewesen wäre, diese Territorien zu vereinen.

Außerdem spielten auch historische und kulturelle Unterschiede eine Rolle. Deutschland war geprägt von verschiedenen Sprachen, regionalen Traditionen und politischen Strukturen. Diese Vielfalt führte zu einer Fragmentierung und erschwerte die Bildung eines einheitlichen Staates.

Ein weiterer Faktor war der Einfluss anderer europäischer Mächte. Im Laufe der Geschichte hatten verschiedene Länder Interesse an den deutschen Territorien und versuchten, ihren Einfluss geltend zu machen. Dies führte zu Konflikten und machte eine Vereinigung schwierig.

Erst im 19. Jahrhundert begann sich die Situation zu ändern. Die industrielle Revolution und politische Entwicklungen wie der preußische Einigungskrieg und der Deutsch-Französische Krieg führten letztendlich zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs im Jahr 1871.

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Master in Geschichte
Kugelblitz02 
Fragesteller
 20.04.2024, 11:14

Wow sehr interessante und ausführliche Antwort. Vielen vielen Dank 😊

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Kugelblitz02 
Fragesteller
 20.04.2024, 11:30

Ich finde es auch interessant, wie es mit dem ersten richtigen deutschen Staat dann mit der Reichsgründung zumindest wirtschaftlich und wissenschaftlich stark bergauf ging. Es gab viele Entdeckungen und Erfindungen in den Anfängen des Kaiserreichs und einen unfassbaren Wirtschaftsaufschwung. Zuvor waren die Gebiete in Deutschland ja eher wirtschaftlich relativ schwach im Vergleich. Hatte dann wohl doch seine Vorteile gebracht.

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Kugelblitz02 
Fragesteller
 20.04.2024, 11:58

Gab es in den anderen Königreichen eigentlich gar keine Landesherren? Wie wurden die dann organisiert, ich finde nichts dazu. Also es muss ja mehr Unterteilungen als Bürgermeister oder Burgherren/grafen gegeben haben in z.B. Frankreich, England oder Polen :). Es muss doch trotzdem irgendwelche Landesherren gegeben haben, die Tribut an den König gezahlt haben und dafür weiter ihren Bereich verwalten durften und dem König im Kriegsfall zur Seite standen mit ihren eigenen Soldaten.

Ich finde dieses ganze Lehnswesen deutlich komplizierter als alle Formen die es in der Antike gab 😂

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Es gab nie die starke Zentralfigur bzw das Zentrum der Macht. Selbst Karl der Große wanderte mit seinem Hof ständig weiter. Es gab zu viele andere mächtige Fürsten, die keine Zentralmacht aufkommen liesen

Kugelblitz02 
Fragesteller
 19.04.2024, 19:54

Da sind wir ja echt eine Art "Phänomen" meinst du nicht? Kennst du irgendein Gebiet in Eurasien, auf dem bis 1871 nie ein richtiger Staat war?! Ich nicht. Außer eben Deutschland. Zumindest eben wenn man wie gesagt alles, auch Ostdeutschland mitnimmt. Denn ein Teil Westdeutschlands war ja Rom, also schonmal ein Staat.

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Kugelblitz02 
Fragesteller
 19.04.2024, 19:55

Danke vielmals für die Antwort

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Kugelblitz02 
Fragesteller
 19.04.2024, 20:01

Aber jetzt fällt mir etwas neues ein. Kann man nicht die Habsburger als Zentrum dieser "fehlenden" Macht sehen? Die dann auch bei den Spaniern für das goldene Zeitalter verantwortlich waren und die spanischen Niederlande, Österreich etc? Das heilige römische Reich war doch auch Habsburgisch.

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weisserMann04  19.04.2024, 20:08
@Kugelblitz02

Ja und nein. Die Habsburger waren eine der mächtigen deutschen Fürsten und eben nur in einem Teil von Deutschland mächtig. So wie die Wettiner dann König von Polen wurden (nicht deutsch) wurden die Habsburger König in Ungarn und eine andere Linie in Spanien und später sogar in Mexiko. Aber keiner konnte die absolute Überlegenheit über alle anderen gewinnen, es waren immer ganz viele große und kleinere Staaten, die sich jeweils verbündeten, aber stets selbständig blieben

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Kugelblitz02 
Fragesteller
 19.04.2024, 20:22
@weisserMann04

Die Wettiner sind ja auch das Adelsgeschlecht des heutigen Sachsens wenn ich mich erinnere. Sachsen war ja auch schon mächtig bevor es einen deutschen Staat gab (also natürlich das Sachsen, dass auch heute noch Sachsen heisst, nicht die Angelsachsen)

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weisserMann04  19.04.2024, 21:48
@Kugelblitz02

Sachsen wurde erst durch Napoleon selbst zum Königreich genau wie Württemberg. August der Starke wollte aber unbedingt König werden, konvertierte zum katholischen Glauben und ließ sich von den Polen krönen.

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Wieso schaffte es Deutschland bis 1871 nie, ein Königreich oder Staat zu werden?

Weil das Eigeninteressen der vielen Königreiche und Fürstentümer verhinderten.

1870 gab es das erste Deutschland, vorher gab es reichlich Eigennahmen bis runter zu den Kleinstaaten, die zwar Deutsch sprachen, allerdings eigenständige Königreiche gewesen sind. Erst als Bismarck daraus Deutschland formte, wurde Wilhelm I in Versailles zum Kaiser erhoben und stand fortan DE vor.

Mit den Novemberverträgen von 1870 traten die süddeutschen Staaten Baden, Württemberg und Bayern sowie Hessen mit seinen Gebieten südlich der Mainlinie zum 1. Januar 1871 dem von Preußen dominierten Norddeutschen Bund bei.

Deutsche Reichsgründung - Wikipedia

Woher ich das weiß:Hobby
Kugelblitz02 
Fragesteller
 20.04.2024, 11:18

Vielen Dank :)

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Schon 1867 gab es mit dem Norddeutschen Bund einen Bundesstaat.

Kugelblitz02 
Fragesteller
 20.04.2024, 11:16

Genau, das wusste ich ebenfalls schon :). Aber das hatte ja auch nur einen Teil des späteren deutschen Gebietes in Anspruch genommen, verstehst du? Danke vielmals für deine Antwort.

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Wieso schaffte es Deutschland bis 1871 nie, ein Königreich oder Staat zu werden?

Da wäre ich vorsichtig!

das heilige römische Reich als eher Staatenbund statt ein eigener Staat,

Das HRR hat in der Zeit seines Bestehens, also rund 900 Jahre, Wandlungen durchgemacht. Ob es im Mittelalter ein Staat war, wird in der Wissenschaft nicht einhellig bejaht.

In Spätmittelalter beginnend, war es das in der Frühen Neuzeit durchaus, allerdings war es kein zentralistischer Staat wie u.a. Frankreich und England, aber ein föderaler. Statt eines mächtigen Monarchen besaß das HRR einen beinahe konstitutionellen Wahlmonarchen, dessen Macht als Kaiser durch die Goldene Bulle, die bei der jeweiligen Wahl zugestandene Wahlkapitulation und später auch noch durch den Westfälischen Frieden beschränkt war. Außerdem hatten die Kurfürsten erhebliche exekutive Mitspracherechte, während die Reichsgesetzgebung, u. a. bezüglich der Reichssteuern, auf dem Reichstag, der Versammlung der Reichsstände, stattfand. Insofern herrschte im HRR sogar eine Vorform von Demokratie. Das HRR war sogar im Ansatz ein Rechtsstaat, der mit dem kaiserlichen Reichshofrat und vorallem dem Reichskammergericht eine höchste Gerichtsbarkeit besaß. Die Einteilung des Reichsgebietes in Reichskreise hatte vornehmlich Bedeutung für die Reichsverteidigung. Das staatliche System des HRR blieb bis ins 18. Jahrhundert stabil, bis dann Preußen durch seine Kriege das Reich zunehmend stabilisierte und ihm etwas später Napoleon den Todesstoß versetzte.

der deutsche Bund fast genau so...

Der Deutsche Bund war ein Fürstenbund und glich eher einem Staatenbund als einem föderalen Bundesstaat. Daher gab es auch keinen Kaiser mehr, sondern nur noch ein Präsidium, aber immerhin eine Bundesversammlung/einen Bundestag, die/der wichtige Beschlüsse fasste, die für alle Mitgliedsstaaten verbindlich waren. Mit der Bundesakte von 1815 und der Wiener Schlussakte von 1820 hatte der Deutsche Bund auch eine Art Verfassung.

Als Nachfolger des Deutschen Bundes bildete sich 1866 ein besonderes Staatsgebilde heraus, der Norddeutsche Bund. Er hatte eine Verfassung, ein demokratisch gewähltes Parlament, einen Bundesrat und ein Präsidium, das Preußen zustand. Dieser Bund, zunächst noch ohne die süddeutschen Staaten, bildete die Vorstufe zum Kaiserreich von 1871.

Die föderale Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland hat also eine lange, traditionsreiche Vorgeschichte!

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Ich arbeite als Historiker.