Wie ging man vor bspw. 30 Jahren mit Essstörungen um?
Hat es die Menschen damals weniger interessiert bzw. hat man weniger Verständnis für diese Menschen mit ES gehabt? Oder hatte man auch da schon Aufklärung?
8 Antworten
Man kannte das Kranheitsbild. Es hieß dann immer, das ist "seelisch". Alle psychosomatischen oder postraumatischen Auffälligkeiten nannte man damals so. (Seelisch meint, dass die Seele leidet). Die Steigerung dazu war: "Ist bekloppt", also geisteskrank.
Solange die Person nicht in den lebensgefährlichen Bereich kam, lies man sie mehr oder weniger gewähren. Zumal sehr lange "Twiggi" es modern machte klapperdünn zu sein. Sehr dünne Menschen entsprachen dem Zeitgeist und besonders Mädchen glaubten: je dünner = je schöner. Alle Models in den Zeitungen waren runtergehungert und viel zu mager.
Nur wohlwollende Mütter und Omas nörgelten: "Ach Kind, jetzt iß doch mal was." Das verhungert aussehen chic sein sollte, ging ihnen nicht in den Kopf. Schließlich hatten sie selber in der Not gehungert und kein Verständnis für das Konzept: "Essen im Überfluss da und trotzdem hungern." Wer das machte, mit dem konnte doch was nicht stimmen. Oft kam erst wenn sie die Männer/Väter darauf aufmerksam machten, Bewegung in die Sache oder wenn der Hausarzt Alarm schlug. Dann ging es häufig in eine "Erholungskur", z. B. an die Nordsee oder in die Berge: "Die Seeluft macht bestimmt Hunger." Wenn die nichts nützte kam man in eine Nervenklinik. Wie erfolgreich das war, lag am Talent/Einfühlungsvermögen des Personals und des Arztes. In vielen Kliniken versuchte man einfach den Willen zu brechen und wurde ggf. auch zwangsernährt. Oftmals blieb man so lange vor seinem Teller hocken, bis er leer war. Gleichzeitig durften alle anderen, die mitzogen und aßen schöne Sachen, Sport und Ausflüge unternehmen. Erreichte man sein Mindestgewicht und aß einigermaßen normal durfte man heim.
Klar forschte man auch nach den Ursachen der Essstörung. Ließen sich diese nicht abstellen, kehrte man nach der Behandlung in sein gewohntes Umfeld zurück, verfiel in alte Muster und ging erneut in die Klinik, als hätte diese eine Drehtür.
Oh nein. Gute Eltern versuchten absoult alles, um ihr Kind überleben zu lassen. Nur hatte keiner Ahnung wie?. Anfangs dachten sie noch, dass es eine vorübergehende Phase ist, die man besser ignoriert. Es hießt immer: "Ein Jahr in die Länge, ein Jahr in die Breite." Soll heißten: In der Pubertät wird man erst pummelig und hat danach einen Wachstumsschub. Solange die Eltern daran glaubten passierte nicht viel. Vergiß nicht. Damals hatte man noch mehr Kinder. Es fiel nicht immer sofort auf, wenn einer Essstörungen hatte. Bei 4 oder 6 Kindern am Tisch ist viel los und danach waren immer alle Teller und Schüsseln leer. Besonders mit pubertierenden Jungs am Tisch, muss man zusehen, dass man "was" abbekommt. Die futterten alles weg.
Viele Essgestörte liefen "unter dem Radar". Sie kaschierten ihr Problem, in dem sie den Teller etwas schmutzig machten oder statt zu essen sich anboten Fehlendes zu holen. Da es nach den Hungerjahren ein eher ungewöhnliches oder undenkbares Phänomen war, kam ihnen einfach nicht die Idee, dass jemand freiwillig hungern könnte. Sie dachten eher darüber nach, wie viel sie anschleppen müssen, um alle satt zu bekommen. Beim Essen so ausgetrickst zu werden kam ihnen gar nicht in den Sinn.
Ab einer gewissen Sichtbarkeit forderte man das Kind zum Essen auf. Es bekam spezielle Lieblingsspeisen und hochkalorisches Extraessen. Man drohte mit allem Möglichen oder versuchte es mit Belohunungen. Sie schleppten das Kind zum Arzt und beantragte Erholungskuren.
Ich habe 2 Schwestern und einen Bruder. Mein Vater und mein Bruder waren Lebensmittel-Löcher. Unglaublich was man da hineinwerfen musste, um die satt zu bekommen. Beispiel: Wenn Besuch anstand gab es Torte, z. B. Buttercremetorte. 1 Stück und ich platze, das ist eine Kalorienbombe. Meine Mutter machte immer gleich 2 davon. Eine Torte aßen mein Vater und mein Bruder vorab, bevor der Besuch kam. Das sollte verhindern, dass sie vor dem Besuch so gierig schlangen. Von der 2. Torte musste man trotzdem zusehen, dass man was abbekam, so verfressen waren die Zwei.
Die eine Schwester war ein Pummel und die andere gewollt sehr schlank. Essen war damals immer abgezählt. Jeder wußte genau was ihm zustand. Der Dünnen war es immer zu viel und dem Pummel zu wenig. Die "Männer" bekamen immer doppelte Rationen oder das größere Stück. So kamen mein Bruder und meine ältere Schwester auf die Idee der Zarten das Essen abzuschwatzen. Sie wetteiferten quasi darin. Irgendwann verfielen sie auf die Idee es ihr madig zumachen, im wahrsten Sine des Wortes. "Ach guck mal, das sieht aus, als wären da Maden drin ..." so in der Art. Einmal behaupteten sie, der Hund hätte schon gekostet. Ihr Opfer schob natürlich sofort angeekelt den Teller weg und sie stürzten sich grinsend drauf. Dieser Kampf artete naturgemäß aus, wenn es um lecker Nachtisch ging oder um Leibspeisen.
Bei so einem "Remmidemmi" am Tisch fallen Eßstörungen spät auf. Da schimpft die Mutter eher darüber, dass sie nicht so einen Blödsinn erzählen sollen, bevor ihr die Essstörung auffällt.
Definitiv weniger Verständnis als heute, aber klar wusste man schon medizinisch darüber Bescheid. 1995 war jetzt nicht das finstere Mittelalter.
Allerdings war Untergewicht damals auch ziemlich stark in der Mode. Ich sag nur "Heroin Chic". Das hat sicher einigen psychisch geschadet.
Wirklich, war das damals Mode? Also galt das als normal?
Jo.
"Heroin Chic beschrieb in den 80er- und 90er-Jahren das Schönheitsideal des abgemagerten Körpers, inklusive blasser Haut, dunkler Augenringe, eingefallener Gesichtszüge und strähnigem Haar. Merkmale, die auf den körperlichen Verfall nach einem Drogenmissbrauch schließen lassen könnten."
Solche Probleme gab es auch schon vor gut 30 Jahren. Essstörungen wurden durchaus in der Öffentlichkeit und sogar in der Schule diskutiert. Unsere Tochter wurde damals magersüchtig. Mit einer Therapie und einer Tagesbetreuung in enem Max-Planck-Institut für Psychiatrie konnte sie nach 6 Wochen geheilt werden.
vor 30 Jahren ging man da schon ärztlich mit um. Aber vor 50 Jahren noch nicht.
Wir hatten in den 80ern eine Magersüchtige in der Klasse und ich denke mal, wir sind nicht wie im Mittelalter mit ihr umgegangen. Die Lehrer auch nicht.
Danke für die ausführliche Antwort. Also haben die Eltern einen mehr oder weniger gewähren lassen früher?