Widerspricht Kant mit seiner deontologischen Ethik der eudämonistischen Ethik des Aristoteles?

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Immanuel Kant widerspricht in der Ethik Aristoteles, aber nicht völlig. Es können bei einem Vergleich verschiedene Bezugspunkte genommen werden.

Aristoteles vertritt nicht nur eine eudaimonistische Ethik, sondern auch eine Tugendethik. In einer Tugendethik geht es um das Anstreben des Guten (griechisch: τὸ ἀγαθόν) aus einer inneren Einstellung heraus. Das griechische Wort für Tugend - ἀρετή (arete) - drückt Vortrefflichkeit aus (sehr wörtlich genommen steht es für etwas, das am besten ist – Bestheit). Tugendethiken richten ihre Aufmerksamkeit auf das Gute bei Personen und deren innere Einstellung. Tugend wird um ihrer selbst willen erstrebt und führt nach Auffassung von Aristoteles zur Glückseligkeit (εὐδαιμονία [eudaimonia]). In der Tugendethik geht es um etwas inhaltlich Wertvolles.

Bei Immanuel Kant gibt es dazu eine gewisse Ähnlichkeit, weil nach seiner Auffassung Tugend das oberste Gut ist. Tugend ist ein guter Wille, der mit Festigkeit und Stärke bei seinem Grundsatz bleibt. Tugend versteht Kant als Festigkeit der Gesinnung, als eine Stärke des Willens, die Pflicht zu erfüllen.

Die Einteilung von Ethiken in eine deontologische Ethik und eine teleologische Ethik verwendet nicht sehr deutliche und scharf abgrenzbare Begriffe. Aristoteles vertritt eine teleologische Ethik (griechisch τέλος [telos] = Ziel, Zweck). Sie enthält auch ein Sollen, ist aber mit inhaltlichen Zielen verbunden. Kant vertritt eine deontologische Ethik. Sein oberstes Prinzip, der kategorische Imperativ tritt mit einem von vorgängigen Handlungszielen/Zwecksetzungen vollständig unabhängigen und unbedingten Sollensanspruch auf. Es gibt eine Pflicht dazu.

Die stärkste Abweichung in der Ethik zwischen Aristoteles und Kant ist der von Aristoteles vertretene Eudaimonismus und der von Kant vertretene Nicht-Eudaimonismus.

Aristoteles vertritt in der Nikomachischen Ethik (vgl. besonders Buch 1) einen Eudaimonismus. Glückseligkeit (griechisch: εὐδαιμονία [eudaimonia]) ist nach ihm das höchste und letzte Ziel (Endziel) menschlichen Handelns. Aristoteles ist der Auffassung, ein so großes Gut wie das Glück könne nur durch ein Tätigsein erreicht werden, indem Fähigkeiten und angelegte Möglichkeiten entfaltet werden. Die Entfaltung ist etwas, das Freude bereitet und zu einem guten, erfüllten Leben beiträgt. Als das einem Menschen eigentümliche Werk (das, wozu er speziell bestimmt ist) versteht Aristoteles die mit Vernunft verbundene Tätigkeit der Seele und ein entsprechendes Handeln. Das menschliche Gut ist nach ihm der Vortrefflichkeit gemäße Tätigkeit der Seele bzw. (wenn es mehrere Vortrefflichkeiten gibt) der besten und vollkommensten Vortrefflichkeit entsprechende Tätigkeit.

Nach Kant besteht das höchste Gut in der Übereinstimmung von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit, bei der die Tugendhaften entsprechend ihrer Tugend belohnt werden. Kant weist ein Streben nach Glück als ethische Grundlage zurück, weil es dafür seiner Meinung nach nicht tauglich ist. Das Streben nach Glück ist seiner Einschätzung nach in einem empirischen Bereich angesiedelt, für die es Regeln der Klugheit (hypothetische Imperative gibt).

Immanuel Kant versteht Glückseligkeit als Empfindungsglück (subjektiv empfundener Zustand von Freude/Vergnügen/gesteigerter Zufriedenheit/Wohlbefinden, eher an den Augenblick gebunden).

Seiner Auffassung nach ist Glückseligkeit und das Streben/Verlangen nach ihr als Grundlage der Ethik ungeeignet. Kant hält Glückseligkeit durchaus für ein Gut und ein Ziel. Er lehnt sie nicht ab. Das höchste Gut besteht nach Kant in der Übereinstimmung von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit, bei der die Tugendhaften entsprechend ihrer Tugend belohnt werden. Jedoch hält Kant es für falsch und unmöglich, aus der Glückseligkeit als Bestimmungsgrund ein moralisches/sittliches Gesetz herzuleiten. Sein Glück zu fördern, geschehe schon ganz natürlich aus Selbstliebe. Beim Erreichen der Glückseligkeit gelten Gebote der Klugheit. Diese stellen nur hypothetische Imperative dar. Dies enthält keine Bestimmungsgründe des Wollens, die objektiv und allgemeinverbindlich Gültigkeit als gut beanspruchen können; das Gute würde aufgrund von ihnen nicht notwendig getan. Die Bestimmungsgründe beim Prinzip der Selbstliebe wären nur subjektiv gültig und empirisch (einer zufälligen Erfahrung zu entnehmen), nicht objektiv und notwendig. Bestimmungsgründe sind Wünsche, Begierden, Neigungen und Ähnliches (Streben nach Annehmlichkeit, Gefühle der Lust, erwartetes Vergnügen).

Hypothetische Imperative haben bloß subjektive Gültigkeit, sie gelten nur unter der Bedingung/Voraussetzung, irgendwelche Zwecke als angestrebtes Ziel zu haben. Dann geht es darum, die zur Verwirklichung geeigneten Mittel zu verwenden. Eine Handlung ist dabei nur insofern notwendig, als sie als Mittel zu etwas anderem dient. Es geht um eine Wenn – dann-Beziehung (wenn ich einen bestimmten Zweck verfolge, dann ist es ratsam, bestimmte Mittel zu verwenden, um Erfolg beim Erreichens des Zwecks zu haben). Danach, ob der Zweck selbst vernünftig und gut ist, fragt ein hypothetischer Imperativ nicht.

Nach Kants Darstellung ist ein Streben nach Glück (eine Absicht auf Glückseligkeit) allgemein bei allen vernünftigen Wesen nach einer Naturnotwendigkeit vorhanden, doch es lägen dabei hypothetische Imperative zugrunde. Es handelt sich um Vorschriften der Klugheit (Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zum eigenen Wohlergehen/Wohlbefinden). Eine Handlung ist nicht um ihrer selbst willen geboten, sondern als Mittel zu einer anderen Absicht.

Gründe, warum für Kant Glück nicht das oberste Gut sein kann

  • Kants Begriff des Glücks/der Glückseligkeit als subjektive Zufriedenheit/Befriedigung von Wünschen und Neigungen
  • Kants Begriff des an sich Guten als etwas allein formal/der Form nach Bestimmten (nämlich von der Form moralischer Gesetzlichkeit, die praktische Vernunft aufstellt und einsieht)

Kant trennt damit das an sich Gute und die Glückseligkeit. An die Stelle des Strebens nach einem inhaltlichen Ziel, das zu Glück beiträgt, tritt die Erfüllung der Pflicht.

Glück/Glückseligkeit erfüllt unter diesen Voraussetzungen die Anforderungen an ein oberstes Gut bei Kant nicht:

  • kein uneingeschränktes Gutsein (Wünsche/Neigungen/Begierden, die zu etwas führen, das schlecht/unangenehm/schädlich ist)
  • keine Allgemeingültigkeit, sondern Vielfältigkeit und Veränderlichkeit mit aus der zufälligen Erfahrung stammenden Motiven/Bestimmungsgründen
  • keine Objektivität
  • kein unbedingtes Gebot (von Zwecken bedingt und nur aus Klugheit geboten, wenn diese Zwecke verfolgt werden; die Zwecke sind nicht Prinzipien eines Vernunftwesens, sondern werden vom Menschen als bloßes Naturwesen verfolgt)
karo0 
Fragesteller
 07.10.2021, 20:13

Perfekt, ich küsse Ihre Augen <33333

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