was meint Kant mit Rohigkeit?

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«Rohigkeit» ist «Rohheit». Allgemein bedeutet «roh» nicht zubereitet, ungekocht, unbehauen, ungeschliffen, ungebildet, grob, rücksichtslos, gewalttätig. In dem angegebenen Zusammenhang ist mit «Rohigkeit» ein Zustand gemeint, in dem sich der Mensch ungebildet, zügellos, grob, rücksichtslos, brutal, grausam, ohne Bindung an Recht und Sitte/Moral verhält, von Trieben und Begierden gesteuert. Es ist ein primitiver Zustand, bei dem Verfeinerung/Veredelung/Höherentwicklung fehlt. Kant bezeichnet «Rohigkeit» auch als «Tierheit» (ein bloß tierisches Dasein).

Das Herausarbeiten des Menschen aus der Rohigkeit ist eine Entfaltung der Vernunftbegabung und Erhebung in einen Zustand der Kultur. Er kann in einem Bildungsprozeß seine Fähigkeiten (Vermögen) entwickeln, hinzulernen und sich in seinen Handlungen und dem Zusammenleben mit anderen an Regeln/Gesetze binden.

Der Mensch ist nach Kants Auffassung seiner Möglichkeit nach nicht nur ein Naturwesen, ein Teil der empirischen Sinneswelt, sondern auch ein Vernunftwesen in einer intelligiblen Welt. Als solches hat der Mensch Freiheit und kann aus Achtung ein moralisches Gesetz/Sittengesetz befolgen, das er als Gesetzgebung der Vernunft einsieht und deren Befolgung für ihn Pflicht ist. So wird ein Schritt von der Tierheit zur Menschheit vollzogen. Eine Kultur des Verstandes/der Vernunft und des (guten) Willen wird ausgebildet.

Bei dem Herausarbeiten gibt es Ziele. Zwecke an sich selbst (um ihrer selbst willen angestrebt) sind eigene Vollkommenheit (angestrebte Vervollkommung) und fremde Glückseligkeit.

Außer dem Herausarbeiten aus der Rohigkeit ist auch eine Erhebung zu einer Gesinnung der Tugend und entsprechendem Handeln eine Pflicht.

Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten (1797). Zweiter Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Einleitung zur Tugendlehre. V. Erläuterung dieser zwei Begriffe. A. Eigene Vollkommenheit. AA VI, 386 – 387:
„Wenn von der dem Menschen überhaupt (eigentlich der Menschheit) zugehörigen Vollkommenheit gesagt wird: daß, sie sich zum Zweck zu machen, an sich selbst Pflicht sei, so muß sie in demjenigen gesetzt werden, was Wirkung von seiner That sein kann, nicht was blos Geschenk ist, das er der Natur verdanken muß; denn sonst wäre sie nicht Pflicht. Sie kann also nichts anders sein als Cultur seines Vermögens (oder der Naturanlage), in welchem der Verstand, als Vermögen der Begriffe, mithin auch deren, die auf Pflicht gehen, das oberste ist, zugleich aber auch seines Willens (sittlicher Denkungsart), aller Pflicht überhaupt ein Gnüge zu thun. 1) Es ist ihm Pflicht: sich aus der Rohigkeit seiner Natur, aus der Thierheit (quoad actum), immer mehr zur Menschheit, durch die er allein fähig ist, sich Zwecke zu setzen, empor zu arbeiten: seine Unwissenheit durch Belehrung zu ergänzen und seine Irrthümer zu verbessern, und dieses ist ihm nicht blos die technisch-praktische Vernunft zu seinen anderweitigen Absichten (der Kunst) anräthig, sondern die moralisch-praktische gebietet es ihm schlechthin und macht diesen Zweck ihm zur Pflicht, um der Menschheit, die in ihm wohnt, würdig zu sein. 2) Die Cultur seines Willens bis zur reinesten Tugendgesinnung, da nämlich das Gesetz zugleich die Triebfeder seiner pflichtmäßigen Handlungen wird, zu erheben und ihm aus Pflicht zu gehorchen, welches innere moralisch-praktische Vollkommenheit ist, die, weil es ein Gefühl der Wirkung ist, welche der in ihm selbst gesetzgebende Wille auf das Vermögen ausübt, darnach zu handeln, das moralische Gefühl, gleichsam ein besonderer Sinn (sensus moralis), ist, der zwar freilich oft schwärmerisch, als ob er (gleich dem Genius des Sokrates) vor der Vernunft vorhergehe, oder auch ihr Urteil gar entbehren könne, mißbraucht wird, doch aber eine sittliche Vollkommenheit ist, jeden besonderen Zweck, der zugleich Pflicht ist, sich zum Gegenstande zu machen.“

Das Gegenteil von Rohigkeit ist natürlich "gut durch". Kant, der bekannterweise den Kantibalismus begründet hat, hat zur Erreichung dieses Zustandes ein umfangreiches Rezeptbuch verfasst, mit dem jeder Mensch aus seiner Rohigkeit in eine schmackhafte Delikatesse verwandelt werden kann. Der schnellste Weg aus der Rohigkeit heraus führt über eine ganz enge Symbiose mit einem hervorragenden Qualitätsgrill und extrem heißer Holzkohle, marinieren vorher aber dringend zu empfehlen.

LiloB  25.01.2015, 19:17

das ist ein Grinsen, obwohl Dir natürlich die sittliche Reife fehlt,- aber nicht der Humor - Frage; was ist wichtiger???

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Wie gesagt, das Thema ist omnipräsent. Auch Martin Luther, `Dass man Kinder zur Schule halten solle', was sich in einer dokumentarischen Transkription hier findet: http://www.glaubensstimme.de/doku.php?id=autoren:l:luther:e:eine_predigt_das_man_kinder_zur_schulen_halten_solle

Luther meint: Bauern, Hartz IV-Empfänger usw. bleiben in Rohigkeit gefangen (es fängt an mit "das sich der gemeine man / frembd stellet gegen die Schulen zu erhalten / und jhre kinder / gantz und gar / von der lare zihen / und allein auff die narunge und bauchs sorge sich geben" = Sorge um Nahrung und Bauch), wesrum man all-christlich lehrer und prediger finten müss -- oder so ähnlich.

(Ich mag das Ding schon, weil Luther im Original "meinstu" und "weißtu" usw. schreibt, was ich bisher nur von un-lutherischen Gestalten in Offenbach, Duisburg u.ä. kenne: "Hastu ein Euro?").

Uraltes Motiv über die Kulturentwicklung/-entstehung. Wikipedifiziere "Kulturheros". Schon in der griechischen Sophistik wird Kultur aber als etwas beschrieben, was nicht ein Heros o.ä. von außen (meist "von oben") bringt, sondern was im Menschen, d.h. phylogenetisch, weniger ontogenetisch, als Potential angelegt ist und zur Entfaltung gebracht werden muss. Ein beliebtes Bild ist der Steinblock, in dem "potentiell" Michelangelos David und seine Freunde angelegt sind. Man muss ihn nur rausholen. Ausgeführt, manchmal nur zitiert, weil das Bild gängig ist, findet es sich in Platons Protagoras, Ciceros Vorwort von de inventione, auch Horaz' Ars poetica, und, für Kant bedeutsamer, obgleich er es auch woanders fand, Hobbes Vorwort zu den Elementa Philosophiae/Elementorum philosophiae sectiones tres: http://www.zeno.org/Philosophie/M/Hobbes,+Thomas/Grundz%C3%BCge+der+Philosophie/Lehre+vom+K%C3%B6rper/An+den+Leser

Bemerkenswert ist hier, dass nach Hobbes die Phylogenese (~Schöpfung und "Bildung" des Menschengeschlechts) individuell redupliziert wird: Ontogenetisch wiederholt jeder Mensch, oder kann, wenn er selbst denkt und seine Bildung in die Hand nimmt, durch Bildung (im einen Sinne) die Bildung (im anderen, "schöpferischen"/entstehungsgeschichtlichen Sinne) und kann sie vervollkommnen (oder vervollkommenen?). Am besten gelingt ihm das, wenn er gleich Hobbes abonniert.

Dabei -- Freude für Luhmannianer -- sind die Unterscheidungen, die der Mensch in der Welt trifft, die in der Welt vorhandenen/von der Welt getroffenen Unterscheidungen. Vernunft ist also, wie Hobbes schreibt, "zwar noch nicht in klarer Gestalt [nondum figurata], doch ähnlich der Erzeugerin Welt in ihrem gestaltlosen Anfang". Das heißt zugleich, erst durch den vernünftigen Mensch erreicht die Schöpfung -- er vermeidet hier den Begriff eines Schöpfergottes, die Welt schöpft selbst, oder luhmannianisch, die Schöpfung schöpft -- ihr Ziel. "Ahme der Schöpfung nach."

Vorworte haben natürlich einen eigenen Stil, und von "Naturzustand" der Mensch usw. ist hier noch nicht die Rede, wohl aber auf der folgenden Seite: Lehre vom Körper --> 1. Teil Logik --> 1. Von der Philosophie

Ähnlich Kant: Durch Anwendung der Vernunft findet der Mensch Gesetze (im rechtlichen, moralischen und wissenschaftlichen Sinn), an denen er sein Handeln ausrichtet, und nur an ihnen soll er sein Handeln orientieren, während das hobbes'sche Urviech jede Eichel aufsammelt, die es irgendwo findet -- und dabei manchmal aus Versehen einen Fliegenpilz erwischt.

"1. Die Philosophie scheint mir heutzutage unter den Menschen dieselbe Rolle zu spielen, wie nach der Überlieferung in uralten Zeiten Korn und Wein in der Welt der Dinge. Im Anfang der Dinge gab es nämlich Weinreben und Kornähren nur zerstreut auf den Äckern, Aussaaten aber gab es nicht. Daher lebte man von Eicheln, und jeder, der gewagt hätte, unbekannte oder zweifelhafte Beeren zu probieren, tat dies auf die Gefahr hin, krank zu werden. Ähnlich ist die Philosophie, d.h. die natürliche Vernunft, jedem Menschen eingeboren; denn jeder einzelne stellt bis zu irgendeinem Ziele und in irgendwelchen Dingen Erwägungen an; sobald es aber einer langen Kette von Vernunftgründen bedarf, entgleisen die meisten oder schweifen ab, weil die richtige Methode, gewissermaßen die Aussaat, fehlt. Hieraus ergibt sich, daß nach allgemeiner Ansicht diejenigen, die mit der täglichen Erfahrung wie mit Eicheln zufrieden sind und die Philosophie entweder von sich weisen oder nicht erstreben, ein gesunderes Urteil besitzen als diejenigen, die nicht mit landläufigen, sondern mit zweifelhaften und leicht aufgegriffenen Ansichten ausgestattet, als ob sie recht klug wären, fortwährend disputieren und streiten. Zwar gebe ich zu, daß derjenige Teil der Philosophie, der von den Größen und Figuren handelt, vortrefflich ausgebildet ist. Aber weil ich weiß, daß man in den übrigen Teilen noch nicht in gleicher Weise fortgeschritten ist, so entschließe ich mich, soweit ich die Fähigkeit dazu besitze, die wenigen ersten Elemente der gesamten Philosophie gewissermaßen als eine Art Samenkörner, aus denen, wie mir scheint, die reine und wahre Philosophie herauswachsen kann, zu entwickeln." (Die Übersetzung ist leicht angeschimmelt, ich finde aber online keine andere.)

Kants "Vernunft" ist dem hobbes'schen Philosophiebegriff, zumal hier in der Logik (computatio sive logica) nicht ganz unähnlich.