Warum gab man dem griechischen Philosophen Heraklit den Beinamen "der Dunkle"?

3 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Heraklit (griechisch: Ἡράκλειτος [Herakleitos]) hat in der Antike den Beinamen «der Dunkle» (griechisch: ὁ σκοτεινός [ho skoteinos] bekommen, weil sein philosophisches Werk schwer verständlich und teilweise rätselhaft war.

Das Merkmal «dunkel» kann „unklar“ und „undurchsichtig“ bedeuten und dies ist mit dem Beinamen gemeint.

Heraklit ist auch «Rätseler/in Rätseln Sprechender» (griechisch: αἰνικτής [ainiktes]) genannt worden.

Die Deutung der Sätze Heraklits in seiner philosophischen Schrift ist den Menschen schwergefallen, obwohl in der Antike noch längere Zeit sein ganzes Werk gelesen werden konnte, während später nur Bruchstücke (einzelne Sätze oder kurze Abschnitte) erhalten geblieben sind. Es bereitete Probleme, den Sinn zu erschließen und den gedanklichen Gehalt voll auszuschöpfen.

Nach einer Anekdote (ob geschichtlich echt, ist nicht sicher) hat Sokrates geäußert, das Werk Heraklits zu verstehen, bedürfe es eines delischen Tauchers (Diogenes Laertios 2, 22). Taucher von der Insel Delos (nach der Mythologie Geburtsort des Gottes Apollon, unter anderem Orakelgott und damit ein Gott der Wahrsagung/Weissagung) hatten den Ruf, in Meerestiefen tauchen zu können, wo kaum noch etwas zu sehen war.

Heraklits Gedanken waren vielfach nicht einfach zugänglich und vielschichtig. Seine Sprache ist reich an Bildern, Gleichnissen, Metaphern, Wortspielen und Klansgspielen. Es gibt bei ihm aphoristische Zuspitzungen und Paradoxa (was auch mit seinem Gedanken der Einheit der Gegensätze zusammenhängt).

Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen. In der Übersetzung von Otto Apelt. Unter Mitarbeit von Hans Günter Zekl neu herausgegeben sowie mit Vorwort, Einleitung und Anmerkungen versehen von Klaus Reich. Hamburg : Meiner, 2015 (Philosophische Bibliothek ; Band 674), S. 78 (Diogenes Laertios 2, 22):  

„Euripides soll ihm die Schrift des Herakleitos zum Lesen überreicht und ihn dann gefragt haben, wie er darüber denke; da habe er erwidert: „Was ich davon verstanden habe, zeugt von hohem Geist; und, wie ich glaube, auch was ich nicht verstanden habe; nur bedarf es dazu eines delischen Tauchers.“"

S. 485 – 486 (Diogenes Laertios 9, 11 – 12): „Was aber den Sokrates betrifft und die Äußerung, welche er tat, als er durch des Euripides Vermittlung, wie Ariston sagt, mit der Schrift bekannt wurde, so haben wir in dem Abschnitt über Sokrates [II 22] das Nötige mitgeteilt. Der Grammatiker Seleukos aber behauptet, ein gewisser Kroton berichte in seinem Taucher (Καταλυμβητής), ein gewisser Krates habe die Schrift zuerst nach Hellas gebracht und dabei das Wort fallengelassen, es bedürfe einer Art delischen Tauchers, wenn man an ihr nicht ersticken wollte.“

Cicero hat gemeint, Heraklit habe absichtlich dunkel (occulte: „veborgen“, „versteckt“; nimis obscure: „allzu dunkel“) gesprochen (Marcus Tullius Cicero, De natura deorum 1, 74 und 3, 35; Marcus Tullius Cicero, De finibus 3, 15).

Cicero, Vom Wesen der Götter/De natura deorum : Lateinisch – Deutsch. Berlin : Akademie Verlag Berlin, 2011 (Sammlung Tusculum), S. 61:  

„Dabei verheimlichst du mir nichts, wie dies Pythagoras den Fremden gegenüber zu tun pflegte, und du sprichst auch nicht absichtlich dunkel, wie wenn du Heraklit wärest, sondern, um es dir unter uns offen zu sagen, du verstehst es eben selbst nicht.“

S. 251: „Aber eure Philosophen, Balbus, pflegen alles auf die Kraft des Feuers zurückzuführen und zwar, wie ich vermute, in der Nachfolge Heraklits, den sie freilich nicht alle auf dieselbe Weise interpretieren; doch ihm lassen wir beiseite, da er ja selbst nicht wollte, daß man verstünde, was er sagte.“

Marcus Tullius Cicero, De finibus bonorum et malorum = Das höchste Gut und das schlimmste Übel. Herausgegeben von Alexander Kabza. München : Heimeran , 1960 (Tusculum-Bücherei), S. 87:  

„Das kann in zwei Fällen geschehen, ohne Anstoß zu erregen: wenn man entweder absichtlich so verfährt, wie Heraklit, der den Beinamen „der Dunkle“ erhielt, weil er über die Gesetzmäßigkeit der Natur gar zu dunkel berichtete, oder wenn die schwierige Verständlichkeit der behandelten Erscheinungen, nicht der Worte, cine Darstellung unverständlich macht, wie das in PlatonsTimaeus vorkommt.“

Christof Rapp, Vorsokratiker. Originalausgabe. 2., überarbeitete Auflage. München : Beck, 2007 (Beck'sche Reihe : Denker ; 539), S. 56:  

„Einmal habe man Sokrates die Schriften des Heraklit vorgelegt und ihn gefragt, was er davon halte; Sokrates habe geantwortet: «Was ich verstanden habe, ist ausgezeichnet - ich glaube auch das, was ich nicht verstanden habe, jedoch bedürfte es (dazu) eines delischen Tauchers» (DL II 22). Die Unverständlichkeit der Heraklitischen Schriften, auf die Sokrates hier anspielt, ist schon in der Antike berüchtigt gewesen und brachte ihm den Beinamen «der Dunkle» (skoteinos) oder «der in Rätseln Sprechende» (ainiktês) ein. Der von Heraklit gepflegte Rätselstil dürfte auch dafür verantwortlich sein, dass die Rezeption seiner Schriften wie bei kaum einem anderen Denker von Missverständnissen und Entstellungen geprägt ist. Die Palette von Reaktionen auf Heraklits Thesen reicht deshalb vom Spott und der Häme, die schon von antiken Autoren über die über die Lehren Heraklits ausgegossen wurden, bis hin zur begeisterten Vereinnahmung Hegels («Hier sehen wir Land; es ist kein Satz des Heraklit, den ich nicht in meine Logik aufgenommen»: Vorlesungen über Geschiebte der Philosophie).“

Gábor Betegh, Herakleitos [1]. Übersetzung: Theodor Heinze. In: Der neue Pauly (DNP) : Enzyklopädie der Antike ; Altertum. Herausgegeben von Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Band 5: Gru - Iug. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 1998, Spalte 383:  

„In der Ant. war H. für seine Dunkelheit bekannt, so daß man ihn die Epitheta «der Dunkle» (σκοτεινός, z. B. Strab. 14, 25) und «der Rätseler» (αἰνικτής, Timon von Phleius bei Diog. Laert. 9, 6) verlieh. H. setzt die kryptische Sparche für seine philos. Reflexion ein. Statt einer durchgängigen Argumentation bietet der Text eine strukturierte Reihe änigmatischer und aphoristischer Äußerungen mit einem breiten Spektrum poet. und rhet. Kunstgriffe – von Parallelismus und Chiasmus (22 b 1 DK, B 5; B 10 usw.) bis zu Wortspielen (B 48, B 114) und Rätseln (B 65, B 34). Die Bedeutung entfaltet sich erst in einem zweifachen Prozeß: Durch den kunstvollen Gebrauch der Sprache erhalten die einzelnen Äußerungen wechselnde Bedeutungen, während die aphoristischen Sätze duch die Wiederkehr bestimmter Formeln Gedanken in eine verzweigtes System von Querbeziehungen und Überlegungen eingeordnet wird […].“

Ant. = Antike  

H. = Herakleitos (Heraklit)  

Strab. = Strabon  

Diog. Laert. = Diogenes Laertios  

philos. = philosophische  

poet. = poetischer  

rhet. = rhetorischer  

DK = Hermann Diels und Walther Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker

Dieter Bremer und Roman Dilcher, Heraklit. In: Frühgriechische Philosophie. Halbband 1. Herausgegeben von Dieter Bremer, Hellmut Flashar und Georg Rechenauer (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Begründet von Friedrich Ueberweg. Völlig neu bearbeitete Ausgabe. Herausgegeben von Helmut Holzhey. Die Philosophie der Antike - Band 1/1). Basel ; Stuttgart : Schwabe, 2013, S. 602:  

„Auch die Literaturkritiker nahmen sich Heraklits an, und zwar als eines Hauptbeispiels für dunklen Stil aufgrund der ‘Unklarheit’ der syntaktischen Bezüge (Arist. Rhet. Γ 5, 1407b13-18; Demetrios, De elocut. 122; Theon Progymnas. 829, von anderer Seite wird sein Stil hingegen für Prägnanz und Klarheit gelobt (Diog. Laert. 9, 7).“

Arist. Rhet. = Aristoteles, Techne rhetorike (Τέχνη ῥητορική; Rhetorik; lateinischer Titel: Ars rhetorica)  

Demetrios, De elocut. = Demetrios, Peri hermeneias; Περὶ ἑρμηνείας; Über Rede/Ausdruck; lateinischer Titel: De elocutione)  

Theon Progymnas. = Theon, Progymnasmata (Προγυμνάσματα; Vorübungen)

S. 606: „Auf der einen Seite stehen die Klagen über die «Rätselhaftigkeit» Heraklits und das «Unfertige» seiner Darlegung (ἡμιτέλης, Theophrast nach Diog.Laert. 9, 69; auf der anderen die Bewunderung von «Kürze» (βραχύτης) und «Gewicht» (βάρος) des Ausdrucks (Diog. Laert. 9, 7).“

Diog. Laert: = Diogenes Laertios

S. 606: „Bereits der Antike galt Heraklit aufgrund der Schwerverständlichkeit seiner Schrift als «der Dunkle» (ὁ σκοτεινός bzw. obscurus Ps.-Aristoteles, De mundo 3, 396b20 = B 10, DK I. S. 153 Z. 9; Strabon Geogr. XIV 1, 25 = A 3a, DK, I S. 143 Z. 32; Suda s. v. = A 1a, DK I S. 143 Z. 14, Lucret. I 639; Cicero, De fin. II 5, 5; […]; Wie eine Selbstcharakterisierung liest sich das Fragment 93: «Der Herr des Orakels zu Delphi sagt weder noch verbirgt er, sondern er gibt Zeichen (σημαίνει) […].“

Ps.-Aristoteles, De mundo = Pseudo-Aristoteles, Peri Kosmos (Περὶ Κόσμου; Über die Welt; lateinischer Titel: De mundo)  

DK = Hermann Diels und Walther Kranz, Die Fragmente der Vorsokratiker  

S. = Seite  

Z. = Zeile  

Strabon Geogr. = Strabon, Geographika  

s. v. = sub voce/sub verbo („unter dem Ausdruck“/„unter dem Wort“)  

Lucret. = Titus Lucretius Carus (Lukrez)  

Cicero, De fin. = Marcus Tullius Cicero, De finibus bonorum et malorum

nachtfalter0 
Fragesteller
 05.05.2017, 10:54

Vielen Dank!

1

Heraklit lebte wie Parmenides um 500 v.Chr. Er stammte aus einer aristokratischen Familie in Ephesus und vermittelte als erster eine schriftliche Überlieferung des Logosmythos. Wie Parmenides ist Heraklit Vorläufer der Naturphilosophen und seine Hauptthesen kehren z.B. bei Epikur wieder. Wie Parmenides steht Heraklit an der Grenze von mythischem zu philosophisch-logischem Denken. Das Denken dieser Richtung bis hin zu Epikur ist - wir würden heute sagen - evolutionär, d.h. verfolgt eine gewisse Dynamik der ständigen Veränderung im Gegensatz zur begrifflich fixierten Statik z.B. des Platon. Das ist auch der Grund, warum im platonischen Denken Geschulte weder den Parmenides, noch den Heraklit oder den Epikur wirklich verstehen. Der Logosmythos des Heraklit hat dann später die Stoa befruchtet und reichte bis zum Kirchenlehrer Origenes. Es ist im Kern eine pantheistische Einstellung, die später Spinoza wieder aufgegriffen hat, die aber von den christlichen Kirchen als Häresie abgelehnt wird. Eine seiner wichtigsten Aussagen (panta rhei) - "Alles fließt" würden wir heute modern als "Alles ist sich ständig wandelnder Prozess" wiedergeben. Heraklit hätte über die ganze Klimawandelaufregung nur gelächelt: Alles ändert sich - ständig - auch das Klima, weil nichts still steht.

nachtfalter0 
Fragesteller
 04.05.2017, 19:52

Aber warum macht ihn das dunkel?

0
berkersheim  04.05.2017, 20:01
@nachtfalter0

"Dunkel" steht hier für "schwer verständlich", weil man die Erzählweise der mythischen Tradition nicht mehr verstanden hat. Die ganze Art, die Welt zu begreifen war einem Wandel unterzogen. Großenteils wurde ja noch bis Sokrates nur mündlich überliefert.

0

Er schrieb schwer zu entschlüsselnde Texte, die im Dunkeln bleiben.