Verständnisfrage?

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Der Text steht z. B. bei:

Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen : deutsche Geschichte. I: Vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. 2., durchgesehene Auflage in Beck Paperback. München : C.H. Beck, 2020 (C.H. Beck Paperback ; 6138), S. 129 – 130

Es geht um eine Erörterung zu den Ursachen, warum in Deutschland die Revolution 1848 – 1849 an ihren Zielen gemessen gescheitert ist.

Zu Beginn steht eine These: Die Revolution ist vor allem an einer politischen Überforderung des deutschen Liberalismus durch eine Doppelaufgabe gescheitert, gleichzeitig sowohl Einheit (deutscher Nationalstaat) und Freiheit (Freiheitsrechte und politische Mitbestimmung) zu verwirklichen.

Anders als in alten Nationalstaaten wie Frankreich und England, in denen Könige und Ständeversammlungen schon eine nationale Vereinheitlichung mit einem staatlichen Rahmen geschaffen hatten, musste in Deutschland der staatliche Rahmen für die Vorhaben (Absichten, Pläne, Ziele) der Liberalen und Demokraten erst noch hergestellt werden.

Es folgt eine Deutung. Den Liberalen ist klar gewesen, die Machtmittel der größeren deutschen Einzelstaaten, vor allem Preußens, zu benötigen, um das Werk einer nationalen Einigung (also die Schaffung eines deutschen Nationalstaats) nach außen, gegen andere Mächte (europäischen Staaten, die einem einheitlichen Nationalstaat eher abgeneigt waren) abzusichern, solange die Liberalen am staatlichen Rahmen zur Schaffung eines deutschen Nationalstaats arbeiteten.

Die Sichtweise der Liberalen war: Es darf (auch wegen dieser Absicherung und nicht ausschließlich aus Angst im Bürgertum vor einer sozialen Revolution) keine Politik einer scharfen Auseinandersetzung mit den alten Kräften (Monarchien, Adel, Konservative) und ihre heftige Bekämpfung stattfinden.

Die Linke (Demokraten und Sozialisten) dagegen trat für eine solche Politik der scharfen Auseinandersetzung ein und betrieb sie.

Die Linke hatte nach Auffassung des Historikers damit Recht, dass die gemäßigten Liberalen eine verhältnismäßig günstige Lage mit einem Anfangsschwung im März wurde nicht entschlossen ausgenutzt haben und die alten Kräften (Monarchien, Adel, Konservative) ihre Stellung wieder festigen und stärken konnten. Sie hatte aber keine realistische Lösung für die Doppelaufgabe, gleichzeitig sowohl Einheit (deutscher Nationalstaat) und Freiheit (Freiheitsrechte und politische Mitbestimmung) zu verwirklichen.

Eine Hoffnung auf einen ganz Europa erfassenden Befreiungskrieg der Völker und ein Aufruf dazu ist ein Wunschdenken deutscher Intellektueller gewesen. Dabei wurden die tatsächlichen Kräfteverhältnisse in den einzelnen Gesellschaften und zwischen zwischen den Staaten überhaupt nicht angemessen berücksichtigt (gedacht werden kann an eine mehrheitlich monarchisch eingestellte Bevölkerung, eine große tatsächliche Macht der Fürsten und eine verbreitete Angst im Bürgertum, das meistens mit seiner gesellschaftlichen Stellung ziemlich zufrieden war).

Ein Krieg hätte mit einem Sieg der Gegenrevolution (vermutlich in noch größerem Ausmaß als tatsächlich zwischen Herbst 1848 und Jahresende 1850) und viel mehr Toten, als es tatsächlich gegeben hat, geendet.

Das doppelte Ziel von Einheit und Freiheit ist damals objektiv nicht erreichbar gewesen.

Vvvvvvvvvvv 
Fragesteller
 05.10.2021, 21:07

Dankee

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