Schopenhauers Mitleidsethik u. Nietzsches Moralkritik: Deontolog. od. teleologisch / beides/nichts?

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Ob sich alle ethischen Theorien eindeutig und in der Art eines Entweder – Oder in die Kategorien »teleologisch« und »deontologisch« einordnen lassen, ist sehr zweifelhaft.

Außerdem gibt es unterschiedliche Definitionen, was eine teleologische Ethik und was eine deontologische Ethik ist.

Die Einordnung hängt daher auch davon ab, was für ein Verständnis von teleologischer Ethik und deontologischer Ethik zugrundegelegt wird.

Abhängig davon, ob eine mehr oder weniger weite Bedeutung vorliegt, kann das Ergebnis einer Einordnung unterschiedlich sein.

Eine teleologische Ethik (griechisch τέλος = Ziel, Zweck) ist auf die Verwirklichung eines Ziels ausgerichtet, das in umfassender Art etwas um seiner selbst willen Gutes ist.

Eine deontologische Ethik (griechisch τὸ δέον = das Erforderliche, das Gesollte, die Pflicht) ist eine Lehre vom Sollen oder anders ausgedrückt eine Pflichtenlehre, bei der die die sittliche Verbindlichkeit, das Gebot oder Verbot, auf den Wert der Handlungsweise selbst bezogen ist, unabhängig von Folgen/Ergebnissen. Die Einstellung, das Gesollte/die Pflichten zu erfüllen, wird als gut beurteilt.

Bei einer solchen weiten Bedeutung kann ein ethischer Ansatz als sowohl teleologisch als auch deontologisch eingeordnet werden. Ein Beispiel sind eudaimonistische Tugendethiken, weil diese einerseits tugendhafte Handlungsweisen als gesollt vertreten, andererseits Glück als ein höchstes Ziel anstreben.

In einer engen Bedeutung bestimmt eine teleologische Ethik die moralische Richtigkeit nach einem außermoralischen/vormoralischen Guten. Die moralische Richtigkeit einer Handlung ist von ihrer Eignung zum Erreichen eines bestimmten Ziels/Zweckes abhängig. Die Handlung ist richtig, wenn und insofern sie funktional zum Herbeiführen von etwas Guten als einem Ziel beiträgt. Eine deontologische Ethik ist eine Ethik, die nicht die moralische Richtigkeit vollständig nach einem außermoralischen/vormoralischen Guten bestimmt.

Diese Auffassung nimmt eine (begriffliche) Trennung von moralisch Richtigem und moralisch Gutem vor und will in der Art eines ausschließenden Entweder-Oder alle ethischen Theorien in einer der beiden Kategorien einordnen. Was hier als teleologische Ethik bezeichnet wird, ist eine konsequentialistische Ethik. Eine Schwierigkeit entsteht darin, daß einigen Ethiken die Trennung von moralisch richtig und moralisch gut fremd ist. So könnten Tugendethiken als deontologische Ethiken behandelt werden, obwohl sie nach anderem Verständnis teleologisch sind.

In einer noch engeren Bedeutung kann eine teleologische Ethik als eine aufgefaßt werden, nach der das moralisch Richtige von etwas außermoralisch/vormoralisch Gutem abhängig ist, eine deontologische Ethik als eine, nach der das Gute von einer Norm des moralisch Richtigem abhängig ist

Dabei ergibt sich eine dritte Gruppe von Ethiken, die weder in die Definition teleologische Ethik noch in die Definition deontologischer Ethik hineinpassen. In diese dritte Gruppe können Tugendethiken untergebracht werden.

zu dem Thema:

Christoph Hübenthal, Teleologische Ansätze : Einleitung. In: Handbuch Ethik. 3., aktualisierte Auflage. Herausgegeben von Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2011, S. 61 - 68

Micha H. Werner, Deontologische Ansätze : Einleitung. In: Handbuch Ethik. 3., aktualisierte Auflage. Herausgegeben von Marcus Düwell, Christoph Hübenthal und Micha H. Werner. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2011, S. 122 – 127

Schopenhauer und Nietzsche sind in die beiden Kategorien sehr schwierig einzuordnen und wahrscheinlich nicht gut eindeutig in einer von beiden voll und ganz unterzubringen.

Arthur Schopenhauer

Arthur Schopenhauer geht an die Ethik vom Motiv (dem Beweggrund, der Triebfeder) her heran. Als egoistisch versteht er eine Handlung, deren Zweck letztlich das Wohl und Wehe des Handelnden selbst ist. Egoismus und moralischer Wert einer Handlung schließen sich seiner Meinung nach einander aus. Mitleid gilt als wahre, allen Handlungen von echtem moralischen Wert zugrundeliegende Triebfeder (Arthur Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, behandelt in zwei akademischen Preisschriften (2., verbesserte und vermehrte Auflage 1860). Preisschrift über die Grundlage der Moral. III: Begründung der Ethik. §. 16. Aufstellung und Beweis der allein ächten moralischen Triebfeder). Schopenhauer will erklären, wie diese Motivation möglich ist.

Diese Herangehensweise ist sperrig gegenüber einer Einsortierung in teleologische Ethik oder deontologische Ethik.

Mitleid richtete sich auf die Verhinderung oder Aufhebung von Leiden und damit auf Befriedigung, Wohlsein und Glück. Darin steckt etwas, das zumindest ein Stück weit als teleologische Ethik in weiter Bedeutung verstanden werden kann, weil Gutes als Ziel enthalten ist.

Aus dem Mitleid werden die Tugenden der Gerechtigkeit und der Menschenliebe abgeleitet. Darin ist liegt auch etwas von einer deontologischer Ethik in weiten Bedeutung.

Ein Sollen (mit einem Verbot und einem Gebot) steckt in dem Grundsatz Neminem laede, imo omnes, quantum potes, juva - verletze niemanden, vielmehr hilf allen, soweit du kannst (z. B. vertreten von Arthur Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, behandelt in zwei akademischen Preisschriften (2., verbesserte und vermehrte Auflage 1860). Preisschrift über die Grundlage der Moral. III: Begründung der Ethik. §. 19. Die Tugend der Menschenliebe).

In der Behandlung der Lüge gibt es eine Mischung aus Begründungen, die in eine teleologische Ethik hineinpassen, und Begründungen, die in eine deontologischer Ethik hineinpassen. Die Lüge gilt als Unrecht, sofern sie Werkzeug von List, das heißt des Zwangs mittels der Motivation ist.

Schopenhauer hält dies in der Regel/in den meisten Fällen für vorliegend, gibt aber als Ausnahmen, in denen Lüge kein Unrecht ist, Notwehr gegen List und Gewalt an und argumentiert auch damit, es gebe edelmütige Lügen (Arthur Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, behandelt in zwei akademischen Preisschriften (2., verbesserte und vermehrte Auflage 1860). Preisschrift über die Grundlage der Moral. III: Begründung der Ethik. §. 18. Die Tugend der Gerechtigkeit).

In weiter Bedeutung ist es möglich, Ansätze zu beiden Kategorien zu finden. In enger Bedeutung wird es schwierig. Eine eigenes Wohl und Wehe als moralisch wertvoll gibt es für die Handelnden nicht. Die Mitleidsethik ist verbunden mit einem Eintreten für eine Selbstaufhebung des Willens als Weg der Erlösung/Befreiung. Bei dieser metaphysischen Auffassung ist zu überlegen, ob dies eine moralische Richtigkeit oder etwas außermoralisch/vormoralisch Gutes ist. Wenn eine der beiden Alterativen gewählt werden muß, ist eine teleologische Deutung wohl plausibler, weil es um einen guten Zustand geht, auch wenn das Gute daran ziemlich unbestimmt bleibt.

Bei der noch engeren Bedeutung könnte die Mitleidethik in die dritte Gruppe eingeordnet werden weil sie in die beiden anderen nicht glatt hineinpaßt.

Friedrich Nietzsche

Nietzsches Moralkritik ist bei den beiden Kategorien schwierig einzuordnen, weil er alles für subjektive Wertungen hält.

In weiter Bedeutung lassen sich wohl Aussagen finden, die ansatzweise in eine der beiden Kategorien passen. Ein freier Geist bzw. ein Übermensch zu werden, ist ein Ziel, das anscheinend für gut gehalten wird. Es gibt eine Wettschätzung von innerer Vornehmheit und Intelektueller Redlichkeit an sich als Prinzipien, nicht einfach nur wegen ihrer Folgen. Sowohl auf eher unbestimmte Art ein Ziel als auch ein Sollen ist enthalten bei Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (»la gaya scienza«; 1887). Drittes Buch. 270:
Was sagt dein Gewissen? — „Du sollst der werden, der du bist.“"

In enger Bedeutung kann Nietzsche nicht einer deontologischen Ethik zugeordnet werden. Denn nach seiner Auffassung gibt es keine Eigenschaften der Erscheinungen selbst, moralisch gut oder schlecht zu sein, sondern dies ist erst eine nachträglich an sie herangetragene Deutung aus einer bestimmten Perspektive. Moralische Bewertungen haben seiner Meinung nach einen außermoralischen Ursprung.

Daher lehnt er die Bewertung mit den Kategorien »gut« und »böse« ab, die seiner Meinung von einer von Ressentiment geprägten Moral stammen.

Unbedingte Prinzipien als Pflicht stoßen auf Ablehnung.

Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Sommer - Herbst 1873, 29 [7]:
„Wahrheit als unbedingte Pflicht feindselig weltvernichtend.“

Bei dem Zwang, sich für eine der beiden Alternativen zu entscheiden, wäre Nietzsche einer teleologischen Ethik zuzuordnen, auch wenn es ein ziemlich verschwommenes außermoralisches/vor moralisches Gutes als Ziel darstellt, dem Leben zu dienen/lebensfördernd/lebensteigernd zu sein.

Da es dabei kein inhaltlich wohlbestimmtes Gutes und kein festes Ziel gibt und ein Wille zur Macht als zugrundliegendes Phänomen angenommen wird, ist eine solche Einordnung nicht voll befriedigend und bei der noch engeren Bedeutung wäre Nietzsche am verhältnismäßig besten in einer dritten Gruppe unterzubringen.

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Nietzsche hat in seiner mittleren Periode eine Moral als Notbehelf, als Notlüge (eigentlich) befürwortet, damit wir „von dere Bestie in uns nicht zerrissen werden“ (s. Menschliches, Allzumenschl I, 40). Diese Moral als Notbehelf wäre also teleologisch zu verstehen. In seiner späteren Periode kannte er nur noch eine Herren- und eine Sklavenmoral. Erstere war keine Moral im hergebrachten Sinne, sondern schlicht ein „Herr-sein- und bestimmen-wollen“, was gut und was böse ist. Die Sklavenmoral war die hergebrachte Moral, insbesondere das Christentum und die Mitleidsethik (s. G. Schmidt Noerr, Geschichte der Ethik, S. 125). Diese Sklavenmoral hat er massiv kritisiert. Sie kommt für Nietzsche deshalb nicht in Betracht, weil er nur noch den Willen zur Macht als Grundkraft aller Lebensäußerungen kennt, von der alle anderen Kräfte abgeleitet sind (s. Jenseits von G. u. Böse, 36; sog. monistische Auffassung, im Gegensatz zur dualistischen Auffassung, nach der zwei Grundkräfte im Menschen wirken: die tierische Natur und die Vernunftkräfte). „Macht“ wird von Nietzsche eindeutig als Stärke, Kraft, „Herr-sein“ verstanden (s. Zarathustra II: „Wo ich Lebendiges fand, fand ich Willen zur Macht, und noch im Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein. Und wo Opferung und Dienste und Liebesblicke sind: auch da ist Wille, Herr zu sein“. - In seiner Nachlassschrift „Der Wille zur Macht“ steigert er sein Credo zu dem Satz: „Die Welt ist Wille zur Macht und nichts außerdem, und ihr seid Wille zur Macht und nichts außerdem!“ D.h.: da die Welt eine Moral nicht kennt, hat es eine solche auch nicht für den Menschen zu geben. Nietzsche gelangt zu dieser Erkenntnis, weil er die Moral der Schopenhauerischen Mitleidsethik zuordnet. Das Mitleid ist nach Schopenhauer nur durch Dämpfung, Schwächung, Verneinung des Willens möglich. Für Nietzsche ein Unding! Der Wille darf für ihn niemals auf Schwäche und Weltverneinung gerichtet sein, sondern nur auf Stärke, auf rückhaltlose Bejahung der Welt und des Lebens. So sagt er in „Götzendämmerung 5 (Widernatur): „Moral, wie sie bisher verstanden worden ist, wie sie zuletzt noch von Schopenhauer formuliert wurde als 'Verneinung des Willens zum Leben' ist das Urteil Verurteilter“. Gemeint ist, dass diese „Verurteilten“ im Leben nichts als Leiden, Verzweiflung, Elend sehen und deshalb den Mitleidenden helfen wollen (denn je stärker der Wille zum Leben – sagt Schopenhauer – desto größer das Leiden!) Nach Nietzsche gilt das Gegenteil: Je stärker der Wille (zur Macht), desto größer die Aussicht, Großes im Leben zu leisten. Der Willer ist bei ihm also etwas Positives, bei Schopenhauer etwas Furchtbares. Die Moral (im hergebrachten Sinne) - sagt Nietzsche - kann nur zur Schwächung des Willens (zur Macht) führen. - Fazit: Von Moral kann man also bei Nietzsche (außer in der Form massiver Kritik an der Moral) überhaupt nicht reden (außer - wie gesagt - in seiner mittleren Periode).