Heiraten schwule Männer immer noch Heterosexuelle Frauen?

9 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet

Ich denke, dass das noch sehr viel vorkommt. Das war ja bis vor vermutlich 130-150 Jahren auch in unserer Kultur der absolute Normalfall. Dass ein Paar, das einander heiratete, Gefühle füreinander hatte, dass man sexuelle Attraktion zueinander empfand, das war allenfalls ein nice to have. Aber es wurde schlechterdings nicht als Voraussetzung für eine Ehe angesehen. Das sieht man allein schon daran, dass in vielen gesellschaftlichen Schichten die Eltern entschieden, mit wem ihre Kinder verheiratet wurden. Da spielten vielfach auch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle: Wie hoch ist die Mitgift, wie hoch ist die Mitgiftserwartung? Ob die jungen Leute einander mochten, war ziemlich egal.

Die Vorstellung, dass es erstrebenswert sein kann, den Partner/die Partnerin auch zu lieben im erotischen Sinne aber auch, ihr/ihm emotional ganz tief verbunden zu sein, entsteht im 19. Jahrhundert. Wenn die Paare Glück hatten, wollte es der Zufall, dass da Liebe zwischen ihnen war. Aber wenn nicht, dann halt nicht. Dann war man mit dem Partner/der Partnerin zusammen, verstand sich auf eher freundschaftlicher Ebene gut oder weniger gut. Wenn einem der Sex mit dem Partner/der Partnerin nicht genügte, ging man fremd. Das gab es gleichermaßen bei heterosexuellen Menschen, die mit einem gegengeschlechtlichen Menschen verheiratet waren, die/den sich nicht liebten oder halt bei homosexuellen Menschen, die in heterosexuellen Ehen waren und den Partner/die Partnerin auch nicht liebten. Auch unter ihne werden etliche fremdgegangen sein, streng geheim natürlich, weil das zwischen Männern streng verboten war.

Und die Romantik glorifizierte die erotische Liebe zwischen Frau und Mann. Das wirkt bis heute nach. Von frühester Kindheit an wachsen immer noch unglaublich viele Kinder mit Geschichten, Bildern und Erwartungen auf, dass sie irgendwann einen Menschen des anderen Geschlechts heiraten und dann eine Familie mit Kindern gründen. Ab 17jährige Jungs, die noch nie eine Beziehung hatten, werden häufig von gutmeinenden Tanten oder Onkels gefragt, ob sie denn keine Partnerin haben, aber selten, ob sie denn keinen Partner haben. Das nennt man Heteronormativität. Die Existenz von nichtheteresoxuellen Lebensläufen ist vielen Kindern und Jugendlichen kaum bekannt und sie wissen wenig darüber, wie solch ein Leben ist. Es gibt immer noch viele männliche Jugendliche, die einen Horror davor haben, schwul zu sein und die Schwulsein als extrem unerstrebenswert ansehen. Das führt natürlich dazu, dass auch viele Nichtheterosexuelle Menschen ein heteronormatives Leben führen wollen, weil sie mit dieser Erwartung und diesen Rollenvorbildern aufgewachsen sind. Denn wer will schon in der fragilen Lebensphase von Pubertät und Adoleszenz ein Leben als Schwuler, worüber viele Witze gemacht werden, worüber viele lachen, was viele abschätzig bewerten?

Und bei vielen jungen Leuten dauert es ja auch lange, bis sie sich ihrer sexuellen Orientierung bewusst sind. Ich kenne einige schwule Männer, die als junge Männer dachten: ich bin nicht schwul. Sie haben ihr Interesse an Männern völlig anders eingeordnet. Wie sich erotisches Angezogensein von Frauen anfühlt, das wussten sie gar nicht. Dass sie sich stark für andere Männer interessierten, haben sie als starkes Interesse an einer Freundschaft zu ihnen interpretiert. Zu der Beobachtung, dass noch keine Frau ihr erotisches Interesse erregt hat, sagten sie einfach: Das kommt noch (denn so wird es ja weithin erzählt). Und wenn sie dann - zwar 80% auf Männer stehen - aber ein kleines bisschen bi sind, und dann kommt eine Frau, zu der gegenseitiges Interesse besteht, dann kann es sein, dass sie sich sagen: endlich! Endlich habe ich eine Freundin. Oder manche haben sogar gar kein Interesse erotisches Interesse an Frauen und suchen sich trotzdem eine Freundin, weil sie eine entsprechende Erwartung aus Freundeskreis und Familie spüren. Es ist ja auch in vielen Kreisen prestigeträchtig für viele jugendliche/junge Erwachsene Männer, eine Freundin zu haben. Und andere ahnen vielleicht schon, dass sie schwul sein könnten, aber sie verdrängen es oder wollen es nicht wahrhaben. Ein Coming-out ist ja auch heute noch ein Riesenschritt. Sehr konfliktiv wird es dann meistens, wenn es herauskommt, dass sie schwul sind, z.B. weil sie einen heimlichen Freund haben oder weil sie sich oft zum ONS mit wechselnden Partnern treffen. Aber es gibt natürlich auch andere, die ihre Homosexualität ausschließlich in der Phantasie leben.

Nicht wenige werden sich auch erst nach jahrelanger Ehe bewusst, dass sie schwul sind. Manche bleiben in ihren Ehen, viele trennen sich, nicht selten entwickelt sich aus der Ehe eine gute Freundschaft zwischen den ehemaligen Ehepartnern. Die allermeisten, die ich kenne, möchten jedenfalls ihre Kinder nicht missen und freuen sich, dass es sie gibt.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung
Knetmaus882 
Fragesteller
 27.08.2021, 09:44

Wow, ich bin beeindruckt von dieser Erklärung. Aber auch aufgewühlt 😠.
Ich dachte, man heiratet aus Liebe und möchte bis zum Ende gemeinsam das Leben meistern. Dabei ist es egal , ob Mann/Mann , Frau/Frau, alle anderen Konstellation. Den wirtschaftlichen Aspekt hatte ich nicht auf meinem Bildschirm. Mir ist auch Ehrlichkeit, Vertrauen wichtig. Aber wenn einer der Partner seine Identität verleugnet, ist das gemeinsame Leben kein guter Start. Es ist für mich auch schwer zu begreifen, dass nach jahrelanger Ehe der Mann seine Frau verlässt. Das Problem das ich damit habe ist , das Frauen meistens für die Familie beruflich zurückstecken müssen. Für die Frau bedeutet es, wenn sie sich für einen versteckt schwulen Mann entschieden hat, dass sie viel verliert. Diese Männer spielen bewusst mit den Frauen ( vielleicht gibt es da ja auch umgekehrt). Aber In der Gesellschaft bekommt der geoutete Mann Unterstützung und die Frau bleibt ohne Stütze zurück. Man macht ihr sogar noch Vorwürfe, dass sie sogar Schuld an sein Schwulsein ist . Es ist schon schlimm, wenn man den Partner verliert, finanziell nach neuen Scheidungsrecht keinen Unterhalt bekommt, keinen Job hat ( Familienbetreuung)etc. Und das Leid nur für eine Lüge.
Also , wie du sehen kannst, meine Wut ist groß. Aber Deine Antwort war sehr gut 👍 erklärt. Ich danke Dir. Mein Wunsch wäre eine bessere Welt und nicht diese blöde Doppelzüngigkeit. An alle schönes Wochenende und „ make love not war“❤️❤️❤️❤️❤️❤️

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filmfan69  27.08.2021, 12:54
@Knetmaus882

Danke für langen und deinen freundlichen Kommentar! Ich möchte dazu nochmal einiges anmerken:

Ich dachte, man heiratet aus Liebe und möchte bis zum Ende gemeinsam das Leben meistern.

Ich finde es auch erstrebenswert, wenn man aus Liebe heiratet. Aber wie gesagt, es ist in Europa noch nicht mal seit 150 Jahren so, dass die meisten Menschen es erstrebenswert finden, aus Liebe zu heiraten. Und Geschichte wirkt lange nach.

Aber wenn einer der Partner seine Identität verleugnet, ist das gemeinsame Leben kein guter Start.

Auf manche trifft das wirklich zu. Aber bei sehr vielen ist es gar kein aktives Leugnen der Identität. Sie wissen, wenn sie eine Frau heiraten, noch gar nicht, dass sie schwul sind. Das wird ihnen später erst klar.

Es ist für mich auch schwer zu begreifen, dass nach jahrelanger Ehe der Mann seine Frau verlässt.

Das finde ich auch. Allerdings passiert das im Falle eines Coming-Outs eines hetero verheirateten schwulen Mannes auch nicht immer. Es gibt auch Ehen, die daran gar nicht zerbrechen. Da sagen sich die Partner dann: Eigentlich waren wir doch immer ein tolles Team, wir mögen uns total. Ist deine Homosexualität wirklich ein Grund, dass wir uns trennen?

Andere Paare entscheiden sich genau für die Trennung. Viele Frauen schwuler Männer wollen sich auch trennen, weil sie einen Partner wollen, der sie sexuell begehrt und nicht nur ganz dolle mag. Und oft findet dann die Frau auch einen neuen Partner.

Mein Wunsch wäre eine bessere Welt und nicht diese blöde Doppelzüngigkeit.

Ich denke, es wäre wichtig, dass Homosexualität in Kindheit und Jugend viel stärker Thema wird. Jedes Kind sollte wissen, dass sich nicht alle in der Klasse zu heterosexuellen Menschen entwickeln werden und es sollten weitere Rollenvorbilder präsent sein. Jedes Kind sollte wissen: Wenn ich irgendwann merke, ich bin schwul oder lesbisch, dann ist das völlig ok.

Dir auch ein schönes Wochenende!

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filmfan69  03.09.2021, 08:21
@Knetmaus882

Danke für den Stern! Ich wollte noch einen Punkt zu meinen Ausführungen ergänzen: Die Bedeutung des Liebesbegriffs hat sich Im Laufe der Zeit verändert. In früheren Zeiten bedeutete Liebe: man sorgt für einander, ist für einander da, begegnet einander aufmerksam und respektvoll, man ist einander sexuell treu und all das bis zum Tode. Das war gemeint, wenn man einander am Traualtar Liebe und Treue bis zum Tod versprach. Es waren einfach andere Zeiten. Bevor es die sozialen Sicherheitssysteme gab, die wir heute kennen, war dieser Versorgungsaspekt von existenzieller Bedeutung.

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Natürlich gibt es das. Auch heute.

Knetmaus882 
Fragesteller
 25.08.2021, 20:24

darf ich fragen, ob Du verheiratet bist? ( mit einer Frau) und wenn ja hast Du sexuelle Kontakte zu Männern? Falls es zu persönlich ist, ist es okay. Ich denke nur, es gibt die Ehe für alle und man braucht das nicht mehr.

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verreisterNutzer  25.08.2021, 20:30
@Knetmaus882

Nein. Ich bin seit über 20 Jahren mit einem Mann zusammen und mittlerweile auch verheiratet. Aber von Bekannten usw. kennt man das teilweise noch.

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Mir sind zwei Familien bekannt, die dieses Schicksal durchgemacht haben. Die Männer wollten unbedingt eine Familie gründen, eine Familie mit zwei, die andere mit drei Kindern. Die Frauen wussten nichts von der "versteckten" Homosexualität ihrer Männer. Von Bisexualität hat damals niemand gesprochen. Kaum waren die Kinder im Pubertätsalter, bekannten sich die Männer zu ihrer Homosexualität und verliessen die Familie.

Knetmaus882 
Fragesteller
 25.08.2021, 18:18

Das ist so traurig

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Ja,ich denke vorallem bei Sportarten,wie z.B. Fußball,kommt das vor.

Oder auf Grund der Religion.

Knetmaus882 
Fragesteller
 25.08.2021, 18:03

Das finde ich furchtbar, vor allem wenn die Frau nichts über das Ausmaß der homosexuellen weiß.

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filmfan69  25.08.2021, 18:04
@Knetmaus882

Wieso denn das Ausmaß der Homosexuellen? Ich denke, wenn, dann heiratet sie nur einen.

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Ebby134  25.08.2021, 18:07
@Knetmaus882

Es ist definitiv traurig,dass der Mann sich auf diese Art und Weise verstellen muss und nicht einfach sein Leben leben kann.Auch für die Frau ist es schlimm,wenn sie davon ausgeht,dass ihr Mann sie liebt.

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In vielen Kulturen bleibt den Jungs nichts anderes übrig, wenn sie überleben möchten.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung
Knetmaus882 
Fragesteller
 25.08.2021, 18:20

Vielen Dank für die Ehrlichkeit

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