Gedichtinterpretation "Einen Sommer lang"?
Hallo. Ich habe eine Frage zu diesem Gedicht. Und zwar wird in der vierten Strophe gesagt, dass sie sich finster nähert, also quasi verärgert ist, aber dann doch rot wird. Ist das nicht ein Gegensatz oder verstehe ich das falsch? Und warum wird er in der fünften Strophe durch den Sturm zu ihr gebracht? Danke für jede Antwort!
Einen Sommer lang
Zwischen Roggenfeld und Hecken Führt ein schmaler Gang, Süßes, seliges Verstecken Einen Sommer lang.
Wenn wir uns von ferne sehen Zögert sie den Schritt, Rupft ein Hälmchen sich im Gehen, Nimmt ein Blättchen mit.
Hat mit Ähren sich das Mieder Unschuldig geschmückt, Sich den Hut verlegen nieder In die Stirn gerückt.
Finster kommt sie langsam näher, Färbt sich rot wie Mohn, Doch ich bin ein feiner Späher, Kenn die Schelmin schon.
Noch ein Blick in Weg und Weite, Ruhig liegt die Welt, Und es hat an ihre Seite Mich der Sturm gesellt.
Zwischen Roggenfeld und Hecken Führt ein schmaler Gang, süßes, seliges Verstecken Einen Sommer lang.
Detlev von Liliencron, 1844-1909
2 Antworten
Nein, nicht verärgert. Die vorausgehenden Zeilen geben die Antwort: sie tut doch offenbar, als interessiere sie der junge Mann nicht, aber ihre Gebärden, die nichts als Ausfluchtstrategie sind, beweisen das Gegenteil.
Nicht anders bei "finster": sie tut, als ob sie finster drein schauen würde, also eventuell traurig-besorgt, was 1. ihre wahren Gefühle verbergen und 2. den jungen Mann dazu bewegen soll, sie anzusprechen.
Sie tut geheimnisvoll, um ihn neugierig zu machen.
Was dann ja auch geschieht, denn er hat sie durchschaut ("kenne die Schelmin schon")
Also erstmal: Hast du nicht auch schon mal gemerkt, dass du Gefühle hattest, die eigentlich gar nicht zusammenpassen, sich also widersprechen? Siehste.
Zum Gedicht: Klingt für mich nach ländlicher Romantik. Und damals gab es ja (zumindest habe ich das Gefühl, aus den alten Büchern, die ich kenne) noch viel mehr als heute das Ideal, dass ein Mädchen schüchtern sein muss und wegguckt ("die Augen niederschlägt"), wenn sie jemand ansieht, und dass sie bei jeder Aufmerksamkeit nervös wird. Das war wahrscheinlich eine Art Zeichen für Unschuld und Reinheit. Sie im Gedicht ist ja z.B. schon eine "Schelmin", weil sie das lyrische Ich (einen Mann) aus der Ferne beobachtet.
Zur Zeile: Ich stelle mir das so vor: Sie guckt ein bisschen verspielt trotzig, wahrscheinlich sogar verliebt. Mit "finster" meint er wahrscheinlich, dass sie nicht laut lacht oder lächelt, sondern eben eher nervös-verschmitzt guckt. Und als sie ihn sieht, wird sie rot. Eindeutig verknallt also.
Noch Fragen? Tipp: Versuch einfach, dir alles, was dasteht, im Kopf vorzustellen.
nervös-verschmitzt passt zu finster wohl nicht.
Sturm, das ist der Sturm der Gefühle, heftig und wie durch eine fremde Macht getrieben.
Super erklärt, Danke 😊 Was sagst du zu der fünften Strophe? Warum bringt ihn der Sturm zu ihr? Sturm klingt für mich so hart. Wind wäre doch angebrachter
Ums Wetter geht's wahrscheinlich nicht. Ich stelle mir bei dem "Ruhig liegt die Welt... Sturm" eher diesen typischen Moment vor, den man aus Romantischen Komödien oder Animes kennt, à la Liebe auf den ersten Blick: Mann sieht Frau, kurz alles in Zeitlupe, Engelsgesang, dann zu ihr hinstolpern und sie gefühlsduselig volllabern.
Vielleicht kennst du das aus eigener Erfahrung: Wenn dir beim Hinsehen kurz der Atem stockt und du dann gar nicht mehr an was Anderes denken kannst, weil der "Sturm der Liebe" dir die Gedanken aus dem Kopf gepustet hat.
Übrigens: Was ich schreibe, ist nicht die endgültige Wahrheit, sondern nur, was mir dazu einfällt. Aus dem Gedicht kann man definitiv noch mehr, vielleicht sogar was ganz Anderes lesen.
Aber danke, das hilft mit auf jeden Fall 😄