Emotionssucht?
Mir ist aufgefallen, dass ich unbedingt Emotionen spüren möchte. Deshalb lese ich ständig traurige Romane und sehe traurige Filme, in der Hoffnung, dass ich weine. Ist das normal? Gibt es vielleicht Leute, denen es genauso geht?
2 Antworten
Ja, es gibt tatsächlich viele Menschen, die genau das beschreiben: den Wunsch, endlich wieder etwas zu fühlen – auch wenn es weh tut. Was du erlebst, ist kein Zeichen von „Verrücktheit“ oder Schwäche. Es ist oft ein Hinweis darauf, dass innerlich etwas lange Zeit taub, unterdrückt oder verschlossen war – und dass dein System jetzt einen Weg sucht, wieder in Kontakt zu kommen.
Man nennt das manchmal "emotionale Reaktivierung" – das bewusste (oder unbewusste) Suchen nach Berührungspunkten, die helfen, sich lebendig zu fühlen, wenn man innerlich abgeschnitten ist.
Warum traurige Filme oder Romane?Traurige Geschichten öffnen eine Tür. Sie tun weh, ja – aber sie tun das in einem sicheren Rahmen: Du darfst weinen, ohne dich erklären zu müssen. Du kannst mitleiden, ohne dich selbst direkt offenbaren zu müssen. Es ist wie ein emotionaler Umweg, um wieder an dich selbst heranzukommen.
Für viele Menschen, die früher vielleicht gelernt haben, Gefühle zu unterdrücken, oder die in einer überfordernden Umgebung aufgewachsen sind, ist diese Form von „kontrollierter Emotionalität“ ein erster Schritt in Richtung innerer Lebendigkeit.
Ist das „normal“?Ich würde eher sagen: Es ist verständlich. Es ist ein gesunder Versuch deines inneren Systems, wieder Kontakt zu Emotionen aufzunehmen. Und ja – es gibt viele Menschen, die das genauso erleben. Manche brauchen starke Filme, andere Musik, andere bestimmte Bücher oder Gespräche, um sich selbst wieder zu spüren.
Solange du dich dadurch nicht weiter von dir selbst entfernst oder dich nur in Geschichten flüchtest, ist das nichts, wofür du dich schämen musst. Im Gegenteil: Es kann ein Ausdruck dafür sein, dass du gerade dabei bist, dich innerlich wieder zu öffnen.
Ein paar Fragen zur Selbstreflexion:- Welche echten Gefühle aus meinem Leben versuche ich vielleicht (noch) nicht direkt zuzulassen?
- Was würde passieren, wenn ich über meine eigene Traurigkeit – nicht nur über die in Büchern – weinen würde?
- Wem würde ich mich zeigen, wenn ich wirklich traurig bin – und wäre das sicher?
Vielleicht ist das Weinen über fiktive Figuren gerade der erste Weg, dich selbst wieder zu finden – Stück für Stück, Träne für Träne. Nicht, weil du süchtig nach Emotion bist. Sondern weil deine Seele langsam wieder lernen will, dass es okay ist, zu fühlen.
Du bist damit nicht allein. Und du darfst fühlen – auf deine Weise, in deinem Tempo.
Herzliche Grüsse
Ralf
Das ist ziemlich normal. Deshalb existieren solche Filme und Bücher. Eine Sucht ist das nicht.