Schon Nietzsche hatte erkannt, dass es wohl große Diskrepanzen zwischen der Lehre Jesu und der des Paulus gab. Die Unterschiede lassen sich auch durch das unterschiedliche Bildungsniveau erklären.
Meilenweit war jener Jesus, der Bauhandwerker oder Kleinbauer aus der galiläischen Provinz, entfernt von jenem Paulus, dem studierten Theologen, der, indem er Jesus selbst in seine Theologie einbaute und ihn zum Erlöser machte, das Werk seines Herrn eben nicht ausformuliert, sondern verfälscht hat. Es führt fast kein Weg vom Denken und Glauben des Jesus von Nazareth zum Denken und Glauben des Paulus. Eigentlich gehören sie zwei verschiedenen Religionen an. Hätten sie sich gekannt, sie hätten sich sicher nicht verstanden. Weil aber Paulus in der theologischen Tradition immer als der korrekte und geniale Interpret der Lehre Jesu galt, war die Theologie fast von Anfang an der Meinung, sie verkünde die Lehre Jesu, wo sie doch nur die Lehre des Paulus verkündet hat. Auch Luther und die Reformation, die anstelle lehramtlicher Dekrete wieder allein zur Heiligen Schrift wollten, kamen nicht bis Jesus, sondern nur bis Paulus. Es war einer späteren kritischen Forschung vorbehalten, sowohl die Zeitgebundenheit der Verkündigung Jesu wie auch die Unterschiede zwischen Paulus und Jesus zu konstatieren
Kubitza, Der Dogmenwahn