Nach "unten" treten, um sich ins eigene Knie zu schießen
Ich arbeite im sozialen Bereich. Zunehmend werde ich durch Kollegen gefragt, warum unsere Gesellschaft/ der Staat Langzeitarbeitslose nicht schneller und stärker sanktioniert. Schließlich würde man kaum noch einen Unterschied zwischen dem Niedriglohnbereich und Menschen, die lange ohne Arbeitsstelle sind, wahrnehmen.
Gerade in dem Bereich, in dem ich arbeite, empfinde ich diese "Stoßrichtung" als erschütternd. Zudem sorge ich mich, dass solche Ansichten gefährlich für unsere Gesellschaft sind (oder dies werden können).
Oft stelle mir vor, wie es sein könnte, wenn es Menschen, denen es "selbstverschuldet", durch Schicksalsschläge oder durch eine Kombination aus beidem an beruflichen Perspektiven fehlt, finanziell trotzdem erheblich besser ginge. Hierbei sollten auch sämtliche Sanktionsmöglichkeiten durch das Jobcenter wegfallen.
Insbesondere für Menschen mit geringem Arbeitseinkommen wäre das doch wesentlich besser. Schlagartig müssten sich die Arbeitsbedingungen (Personalschlüssel, Gehalt, Arbeitsbelastungen, Arbeitszeiten, Urlaub etc.) verbessern. Warum sollte sich sonst jemand ausbeuten lassen? Niemand müsste mehr fürchten, in gewisse Mühlen zu geraten, wenn er sich nicht unter Wert verkauft.
Was sind denn z.B. Aufstockerjobs? Damit belasten wir die Staatskasse, um Arbeitgeber zu unterstützen, die keine vernünftigen Löhne bezahlen wollen oder können. Zusätzlich wirkt sich dies negativ auf den Selbstwert des unterbezahlten Menschen und auf unsere Sozialkassen aus (z.B. bezüglich paritätischer Abgaben in Sozialversicherungen).
Wenn man den finanziell Ärmsten (auch wenn dies noch die relative Armut betrifft) zunehmend weniger zugestehen würde, hätte dies auch katastrophale Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.
Lediglich zur Skizzierung trage ich jetzt mal richtig dick auf:
Nehmen wir einmal an, wer länger als eine Zeit X ohne Arbeit ist, erhält ab einem bestimmten Datum keine staatliche Unterstützung mehr. Dies wäre eine Einladung für potentielle Arbeitgeber, den Druck auf dem Arbeitsmarkt -besonders im Niedriglohnsektor- zu erhöhen. Längere Arbeitszeiten, geringeres Einkommen ("Wenn Du nicht für 0,50 Euro die Stunde arbeiten willst, bitte schön. Vor der Tür stehen genug Menschen, die mir ihre Leistung für 0,20 Euro zur Verfügung stellen.") usw....
Schrumpfende Rentenbeiträge, steigende Altersarmut und all dies, sind doch nur eines von vielen Ergebnissen seit Einführung der ALG 2-Gesetze in den 1990er Jahren.
In Folge dessen muss der Staat immer mehr Vorgaben machen, z.B. Mindestlöhne festlegen, die tatsächlich oft keinen Lebensstandard bieten, der über der relativen Armutsgrenze liegt. Nicht wenige Menschen müssen zwei Drittel ihres Einkommens für Wohn- und Nebenkosten und den Weg zur Arbeit aufbringen und kommen gerade so über die Runden.
Indem wir aber weiterhin schön nach "unten" treten, verschärfen wir diesen Zustand. Wie wäre es, wenn wir ärmeren Menschen einen höheren, stabilen Lebensstandard zugestehen, im Gegenzug die Löhne im Niedriglohnsektor steigen, sich dadurch auch die Gehälter der Besserverdiener erhöhen, was gleichzeitig höhere Abgaben in unser Sozialversicherungswesen ermöglicht?
Okay, der Abstand zwischen reichen Menschen und dem Mittelstand würde sich reduzieren, weil es dem Mittelstand endlich besser ginge und sich das Vermögen wirklich reicher Menschen trotzdem nicht in größerem Umfang vermehren würde. Diesen Umstand würden die meisten von uns allerdings sicher verschmerzen. Zumindest könnte man den Mittelstand dann guten Gewissens wieder als Mittelstand bezeichnen. Momentan wird er überproportional belastet. Aber da müsste ich jetzt auch wieder ausholen...
Jedenfalls sollten Menschen mit Abstiegsängsten, die dem Mittelstand angehören, sich in ihren Forderungen lieber mit den Ärmeren verbrüdern. Schließlich würde dies uns allen tatsächlich dabei helfen, ein soziales Abrutschen zu verhindern oder wesentlich sanfter (Bruch) zu landen.
Wie seht ihr das? Was übersehe ich? Welche Gedankenexperimente und Ideen für unsere Gesellschaft gehen euch so durch den Kopf?
Ich bin gespannt auf eure Anregungen.
3 Antworten
Ich finde, du hast das schon schön dargelegt.
Eine Anmerkung noch von mir.
Dem Mittelstand ginge es dadurch nicht besser. Denn:
- Je mehr Subventionen an Aufstockung und Co fließen müssen und je geringer die Löhne desto weniger absolute Summen fließen in Form von Steuern und Sozialabgaben (KV, RV, PV, AV) in Richtung Staat und damit in Richtung Gemeinschaft
- Je geringer die Einnahmen für den Staat, desto höher müssen die anteiligen Abgaben werden, um es auszugleichen
- Je geringer das Existenzminimum desto geringer der Steuerfreibetrag, desto früher greifen die Steuerabstufungen
In Summe: je schlechter das Sozialsystem und je niedriger das Lohngefüge desto klammer der Staat, desto höher die relativen Abgaben.
Der Mittelstand wäre also genauso betroffen.
Ausgenommen sind nur diejenigen, die über der Beitragsbemessungsgrenze liegen oder sich an den Sozialbeiträgen gar nicht beteiligen müssen und genügend Subventionen, Steuernachlässe oder Schlupflöcher haben.
Ich danke Dir für Deine liebe Rückmeldung und Deine wichtige und schlüssige Ergänzung. Stimmt, in diesem Punkt habe ich mich tatsächlich geirrt und ein Einzelbeispiel aus meinem Bekanntenkreis für allgemein gültig erklärt. Ich bin aber immer froh, wenn ich etwas dazulerne, erst Recht, wenn ein gut begründeter Einwand auf eine so liebenswerte Weise vorgebracht wird :)
Finde ich gut deinen Text. Als Problem sehe ich allerdings die politische Machbarkeit, den Leuten z.B. 10% mehr Geld für geschätzt 3-4% Inflation zu "geben". Der Bürger möchte Stand jetzt keinen Reallohnzuwachs von 6-7%, er möchte nach unten treten.
u.a. Für die Bürgergeldempfänger Extraschulungen anbieten, damit sie einen normalen Job bekommen können.
Ohne Qualifikation findet man kaum einen Job in Deutschland.