Kann Ungerechtigkeit für ausgleichende Gerechtigkeit sorgen?
Meine Gedanken dazu:Der Mensch ist ein merkwürdiges Wesen. Er kann Atome spalten, Sonaten komponieren und eine Pizza in weniger als drei Minuten verschwinden lassen – aber wenn es um soziale Fairness geht, stolpert er oft schon bei den Grundlagen.Stellen wir uns vor, jemand mit Autorität tritt vor das Publikum und verkündet:„Gruppe A darf stolz auf ihre Zugehörigkeit sein, Gruppe B bitte nicht.“Auf der kollektiven Ebene mag das als Versuch erscheinen, eine alte Ungerechtigkeit auszugleichen. Die Regel ist in diesem Sinne gerecht gemeint – aber das heißt nicht, dass sie tatsächlich gerecht ist.Manchmal sind solche Maßnahmen historisch begründet, manchmal fragwürdig, und nicht selten gibt es auch Menschen – darunter ausgesprochene Chauvinisten –, die schlicht ihre gewünschte Bevorzugung als „Gerechtigkeit“ tarnen.Im Kopf eines einzelnen Mitglieds von Gruppe B läuft ohnehin kein philosophischer Gerechtigkeitsabgleich ab. Stattdessen passiert Folgendes:Gedanke 1: „Die anderen dürfen etwas, das mir verboten ist.“Gefühl: „Ich bin weniger wert.“Reflex: „Warum sollte ich sie gleichwertig behandeln, wenn sie offenbar bevorzugt werden?“Und hier beginnt der gefährliche Teil: Um dieses Minusgefühl auszugleichen, konstruiert der Verstand Gründe, warum die andere Gruppe „eigentlich“ nicht so toll ist.Das ist keine bewusste, wohlüberlegte Entscheidung – es ist eine Notoperation am Selbstwertgefühl.Der innere Dialog klingt dann ungefähr so:„Sie bekommen Sonderrechte, also müssen sie schwächer, dümmer oder moralisch schlechter sein – sonst bräuchten sie ja keine Sonderbehandlung.“Diese Gedanken sind sachlich falsch, fühlen sich aber logisch richtig an, weil sie die gefühlte Ungerechtigkeit auflösen. Das ist psychologisch dasselbe wie ein schiefer Tisch, unter dessen wackeliges Bein man instinktiv einen Bierdeckel schiebt – nur dass der „Bierdeckel“ hier ein Vorurteil ist.Die neuen Vorurteile, die daraus entstehen, sind oft kein tief verwurzelter Hass, sondern ein Rückstoß-Mechanismus: Sie wachsen als direkte Reaktion auf eine erlebte Asymmetrie und nähren sich aus dem Bedürfnis, den eigenen Wert wieder auf Augenhöhe zu bringen.Das perfide daran: Je gerechter eine Regel gemeint ist, desto ungerechter fühlt sie sich für den Einzelnen an, der ihre Hintergründe nicht emotional miterlebt hat – und desto größer ist die Gefahr, dass die Maßnahme das Gegenteil bewirkt.Denn was kollektiv als „gut gemeint“ präsentiert wird, kann individuell als „schlecht gemacht“ ankommen.Der Ausweg bleibt derselbe: Regeln, die nicht nur im historischen und moralischen Anspruch gerecht gemeint sind, sondern sich auch im Hier und Jetzt gerecht anfühlen. Wenn diese subjektive Fairness fehlt, sucht sich das Gehirn seine Gerechtigkeit auf Wegen, die gefährlicher sind als das ursprüngliche Problem.