Ist doch sehr sehr unwahrscheinlich, dass Evolution so funktioniert, nicht?
So funktioniert Evolution auch nicht. Du setzt in deiner Argumentation voraus, die Evolution wäre ein geplanter Prozess mit einem klaren Ziel. Das ist jedoch nicht der Fall. Evolution ist ein Prozess, der grundsätzlich ergebnisoffen und richtungslos ist und es gibt daher auch keine Entwicklungstrends wie etwa hin zu einer angeblich immer höheren Komplexität. Es ist nicht so, dass Evolution eine Linie ist, die mit "einfachen" Einzellern beginnt und irgendwann mit dem "komplexen" Homo sapiens als (vorläufigem) Höhepunkt endet - auch wenn es in vielen Büchern so irrtümlich dargestellt wird. Das wirkliche Ergebnis der Evolution ist keine Linie, sondern ein weit verzweigter Baum, dessen einzelne Zweige jeweils ganz unterschiedliche Entwicklungsverläufe genommen haben.
Warum ist Evolution ungerichtet? Weil sie grundsätzlich vom zufälligen Auftreten von Mutationen abhängt, die dem Genpool neue Genvarianten (Allele) hinzufügen. Eine Mutation ist dabei zunächst einmal nur eine Mutation, sie ist weder gut noch schlecht und überhaupt nicht an einen bestimmten Zweck gebunden. Sie ist einfach da, zufällig entstanden. Ein solches zwrckungebundenes Merkmal bezeichnet die Evolutionsbiologie auch als Exaptation.
Ob eine Mutation von Vorteil ist, von Nachteil oder neutral, entscheidet sich erst, wenn ein weiterer Faktor hinzu kommt, nämlich die natürliche Selektion. Und die hängt maßgeblich von den vorherrschenden Umweltbedingungen ab und zwar nicht von irgendwelchen, die vielleicht irgendwann in der Zukunft mal existieren könnten, sondern von den an diesem Ort und zu dieser Zeit vorherrschenden. Nehmen wir als einfaches Beispiel einmal an, es tritt eine Mutation auf, die zur Folge hat, dass bei einem Tier das Fell ein bisschen länger wächst. Diese Mutation ist zuerst einmal nur da. Ist sie "gut" oder "schlecht"? Das kommt auf die Umwelt an. Ist das Individuum in einer Region mit polarem Klima geboren, ist das ein Überlebensvorteil, unter gemäßigten Bedingungen macht es eher kaum einen Unterschied und im heißen Wüstenklima ist die Mutation ein Überlebensnachteil und würde dementsprechend von der natürlichen Selektion rasch wieder ausselektiert werden. Die Zweckmäßigkeit einer Mutation, also ihr Anpassungswert (Adaptationswert) ergibt sich also erst, wenn man die Umweltbedingungen einbezieht und entsteht quasi erst im Nachhinein. Man kann vereinfacht sagen: erst kommt die Mutation und dann der Zweck.
Du hast mit deiner Überlegung daher völlig recht, dass wir die Entstehung eines Merkmals, z. B. der Federn, nicht damit erklären können, was ein Lebewesen vielleicht irgendwann einmal damit machen wird. Als die Federn entstanden, konnten die Lebewesen ja nicht wissen, dass ihre Nachfahren damit irgendwann einmal fliegen würden. Wir müssen uns also fragen, worin der Anpassungswert bestand zu dem Zeitpunkt als die Federn entstanden, lange bevor sie zum Fliegen genutzt wurden. In ähnlicher Weise müssen wir die Entstehung jedes anderen Metkmals zu verstehen versuchen. So sind Lungen beispielsweise auch nicht entstanden, um damit an Land zu leben, sondern wir müssen eine Begründung dafür finden, welchen Vorteil die Vorfahren der Landwirbeltiere noch im Wasser daraus gezogen haben. Die Erklärung liefern uns in diesem Fall die engsten Verwandten der Landwirbeltiere, die Lungenfische (Dipnoi). Sie nutzen ihre Lungen, um damit in sauerstoffarmen Gewässern zusätzlich Sauerstoff aus der Atmosphäre aufnehmen zu können. Afrikanische Lungenfische gehen noch weiter und können dank ihrer Lungen das zeitweilige Austrocknen ihres Heimatgewässers überstehen, mitunter überleben sie so sogar mehrere Jahre eingegraben im Boden in einer Ruhestarre - bis es mal wieder regnet und der Fluss oder Tümpel sich wieder füllt.
Federn sind entwicklungsgeschichtlich sehr viel älter als die Vögel selbst, wie wir heute wissen. Die ersten Vögel entstanden im mittleren Jura. Die ältesten Funde von Vögeln datieren aus der Zeit etwa 140 MYA (Mio. Jahre vor heute) und gehören zu der Art Anchiornis huxleyi. Die Funde des bekannten Urvogels (Archaeopteryx lithographica) sind etwa 10 Mio. Jahre jünger. Wir wissen heute aber, dass nicht nur Vögel Federn trugen, sondern dass Federn im Stammbaum der Dinosaurier auch in anderen Gruppen vorkamen und weit verbreitet waren. Schon die ersten Dinosaurier am Ende der Trias trugen Federn. Wenn es stimmt, dass die Pycnofasern genannten haarähnlichen Strukturen der Flugsaurier (Pterosauria) homolog (ursprungsgleich) zu den Federn sind, dann dürfte sogar schon der letzte gemeinsame Vorfahr von Dinosauriern und Flugsauriern gefiedert gewesen sein.
Feder ist dabei nicht gleich Feder. Auch heutige Vögel haben ja nicht nur die "komplexen" asymmetrischen Schwungfedern, mit denen sie fliegen (die hatte übrigens auch der Urvogel schon), sondern beispielsweise auch die wesentlich "primitiveren" Daunenfedern. In ihrer einfachsten Form sind Federn einfache Hornfäden gewesen, die man auch als Protofedern bezeichnet. Solche Protofedern waren weit unter den Dinosauriern verbreitet. Sie waren zum Fliegen natürlich ungeeignet, aber sie waren z. B. dazu geeignet den Körper zu isolieren und halfen somit dabei, dass die Körperwärme erhalten blieb. Wir wissen heute, dass Dinosaurier Warmblüter waren, einige mehr und andere weniger. Insbesondere der Stoffwechsel der Theropoden (zweibeinige Raubdinosaurier, zu denen letztendlich auch die Vögel gehörten) glich dem der modernen Vögel. Federn halfen dabei, dass die produzierte Körperwärme nicht einfach verloren ging.
In einem nächsten Schritt bedeckten die Federn nicht nur den Körper und hielten ihn warm, sie bekamen eine Kontur und konnten als Struktur mit Signalwirkung genutzt werden. Anhand der artspezifischen Gefiederfärbung konnten die Dinosaurier Artgenossen erkennen, als besondere Schmuckfedern könnten sie zur Balz eingesetzt werden, ähnlich wie das etwa Pfauen heute noch tun.
Aus diesen Konturfedern entstanden dann schließlich Schwungfedern an den Armen, bei einigen Arten (z. B. Microraptor) sogar an den Beinen. Diese halfen zunächst wahrscheinlich dabei beim Laufen die Balance zu halten. So konnten höhere Geschwindigkeiten erreicht worden sein und schnelle Richtungswechsel, was kleinen Raubsauriern beim Verfolgen von Beutetieren sicherlich half. Auf diese Weise nutzten wohl z. B. die Dromaeosaurier, die eng mit den Vögeln verwandt waren, ihre Federn, z. B. auch der aus Jurassic Park bekannte Velociraptor, bei dem inzwischen nachgewiesen ist, dass er Federn hatte. Vielleicht, aber das ist eher Spekulation, konnten diese Dinosaurier damit zwar nicht fliegen, aber möglicherweise flattern und ihrerseits ihren Raubfeinden durch Sprünge in die Luft entkommen - auf ähnliche Weise tun es die Fliegenden Fische. Manche Arten waren auch Baumbewohner, die dank ihrer Schwungfedern von Baum zu Baum gleiten konnten, so wie es heute Gleithörnchen oder Riesengleitern mit ihren zwischen den Beinen und der seitlichen Bauchwand gespannten Flughäuten tun. Aus diesem Gleitflug könnte sich dann der Ruderflug, also das aktive Fliegen entwickelt haben, wahrscheinlich sogar mehrfach voneinander unabhängig.
Die Federn waren also schon vorher da, sie wurden mehrfach "umgenutzt" und konnten schließlich auch fürs Fliegen umgenutzt werden. Die späteren Flieger nutzten also das, was bei ihren Vorfahren schon für andere Zwecke angelegt war. Federn waren so gesehen eine Art Voranpassung (Praeadaptation), die zwar nicht zum Zweck des Fliegens entstanden sind, aber dessen Evolution anschließend ermöglichten. Analog entstanden etwa die Lungen nicht, um an Land zu gehen, sie machten den späteren Landgang aber möglich.
Abschließend noch eine Bemerkung zur "Langsamkeit" der Evolution. Warum ist die Evolution nun so langsam? Na ja, erinnern wir uns daran, was ich eingangs schrieb: Evolution braucht Mutationen. Evolution kann also erst mal nur so schnell sein wie es die natürliche Mutationsrate vorgibt. Die ist nicht immer gleich, bei Prokaryoten ist sie aufgrund fehlender Reparationsmechanismen (proofreading) und infolge der kürzeren Generationszeiten höher als z. B. bei Tieren. Weit verbreitete Gene sind oft hochkonserviert und mutieren nur ganz langsam. Das betrifft insbesondere solche Gene, die im Stoffwechsel eine große Schlüsselrolle spielen und bei denen selbst geringste Abweichungen zu einem Funktionsverlust des codierten Genprodukts führen würden, der mit dem Leben unvereinbar ist. Dann muss natürlich sozusagen auch die "richtige" Mutation zum "richtigen" Zeitpunkt erfolgen, was angesichts der Zufälligkeit ihrer Entstehung nicht gerade vorhersagbar ist. Und schließlich spielt auch eine Rolle wie stabil die Umwelt ist. Gerade bei extrem raschen Veränderungen kann die Mutationsrate nicht mit der Veränderung der Umgebung Schritt halten, es bleibt dann quasi nicht genug Zeit, um sich an die neuen Umweltbedingungen anzupassen und sofern dann ein Ausweichen in eine andere Region mit geeigneten Lebensbedingungen nicht möglich ist, führt das dann oft zum Aussterben. So werden z. B. einer Studie aus dem Jahr 2019 vom Berliner Leibnitz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (Leibnitz IZW) zufolge zahlreiche mitteleuropäische Vogelarten mit der raschen Veränderung der Umwelt durch den anthropogenen Klimawandel in Mittrleuropa nicht mithalten können und möglicherweise aussterben. Das Klima ändert sich einfach so schnell, dass die sich nicht rechtzeitig werden anpassen können. Ähnliches beobachtet man auch bei vielen Baumarten: hier können viele Arten nicht schnell genug in andere Gebiete auswrichen, weil die Ausbreitungsgeschwindigkeit zu langsam ist. Viele Baumarten können durch Ausbreitung ihrer Samen ihr Verbreitungsgebiet pro Jahr nur um einige Kilometer ändern, müssten es aber eigentlich um bis zu hundert Kilometer jährlich verlagern, um mit der Veränderung Schritt halten zu können. Vielerorts versucht man, den Prozess künstlich zu beschleunigen, indem im Süden gewonnenes Saatgut weiter nördlich gepflanzt wird.
EDIT: Unter bestimmten Voraussetzungen kann sich die Evolution auch quasi selbst "beschleunigen". Einige pathogene Bakterien besitzen bestimmte Gene, die besonders schnell mutieren und sozusagen eine Art "Spielkiste" darstellen. In diesen Bereichen können sich ganz schnell neue Genvarianten ansammeln, die bei Umweltveränderungen dann gleich auch eine "passende" vorteilhafte Genvariante enthalten können. Experimentell wurde das auch an der Art Pseudomonas fluorescens nachvollzogen. Ein anderes Beispiel sind Darwinfinken, deren Schnabelfotm sich rasch an ein verändertes Nahrungsangebot ampassen kann. Möglich wird das, weil die Schnabelform bei ihnen von vergleichsweise wenigen Genen abhängt. Nur sechs Gene sind hier für 45 % der Variation verantwortlich. In diesen Fällen begünstigt die natürliche Selektion also eine schnellere Evolutionsfähigkeit. Trotzdem bleibt es ansonsten aber dabei, dass diese Veränderungen ungerichtet sind, die Evolution also nicht plant. Im aktuellen Spektrum der Wissenschaft erschien dazu ein Artikel.