Zeichnung interpretieren Geschichte?

1 Antwort

Das Bild und der dazugehörige Text sind ein gutes Beispiel für den modernen Antisemitismus. Während der mittelalterliche Antisemitismus religiös geprägt war (und deshalb von Hitler als "primitiver Antisemitismus" abgelehnt wurde), charakterisiert es den modernen Antisemitismus, dass die Juden als Verursacher all jener negativen Folgen angesehen werden, die die kapitalistische Verfasstheit der Gesellschaft verursacht.

Wenn, wie im Kapitalismus, die Gesellschaft aus vereinzelten Warenproduzenten und Warenbesitzern besteht, die sich gegenseitig ihre Waren verkaufen (müssen), so ist natürlich klar, dass es zwischen den einzelnen Warenproduzenten bzw. Warenbesitzern eine heftige Konkurrenz gibt. Im Konkurrenzkampf sucht jeder seinen Vorteil. Nicht aus Egoismus, sondern aus der Notwendigkeit zu überleben muss die Konkurrenz möglichst aus dem Feld geschlagen werden.

Bei Kaufleuten hat die Entwicklung dahin geführt, dass der kleine Einzelhandel verdrängt wurde durch große Kaufhäuser. Diese können ein breiteres Warenangebot bieten und zu günstigeren Preisen verkaufen als kleine Ladenbesitzer. Das ist ja auch heute noch so und hat mit "Judentum" gar nichts zu tun, sondern ist einfach eine logische Entwicklung im Kapitalismus. Wer allerdings glaubt, die ganze schöne kapitalistische Welt könnte ohne Konkurrenz, ohne Verdrängung der kleinen Händler und Produzente durch Große, ohne Ausbeutung usw. existieren, muss natürlich nach Schuldigen suchen. Irgendjemand muss ja daran schuld sein, dass die schöne, gute, gerechte kapitalistische Welt zu Ungerechtigkeiten führt. Denn im System selber kann ja nach dieser Auffassung der Fehler nicht liegen. Irgendjemand betrügt und spielt falsch. Diese Rolle übernehmen im modernen Antisemitismus die Juden, weshalb die Nazis die Judenverfolgung als "antikapitalistisch" verkaufen konnten. Soviel auch zum Wortbestandteil "sozialistisch" in "nationalsozialistisch".

In der Zeichnung handelt es sich bei dem rechten Mann offenbar um einen Kaufhausbesitzer, die Zeichnung zeichnet ihn mit allen antijüdischen Stereotypen. Der Mann links, offenbar ein zugrunde gegangener Kleinhändler, wirft ihm vor, ihn durch die Konkurrenz ruiniert zu haben - so als sei das ein teuflischer Plan des jüdischen Kapitalisten gewesen. In fieser antisemitischer Weise wird dem jüdischen Kaufmann sodann noch unterstellt, selbst am Selbstmord des wahrscheinlich "ehrlichen, kleinen Kaufmanns" noch verdienen zu wollen.

In den Anfangsjahren gehörte die Agitation gegen die großen Kaufhäuser übrigens zu den Hauptpropagandapunkten der Nazis. Viel geändert haben sie allerdings nicht, denn die großen Kaufhäuser wurden nach der Arisierung einfach von den neuen "deutschen" Besitzern weiter geführt.