Wie beeinflusst die Ethik die Entscheidungsfindung in der Medizin, insbesondere in Bezug auf Themen wie Sterbehilfe und Organtransplantation?

2 Antworten

Das sind sehr komplexe und schwerwiegende Themen mit weitreichenden Implikationen, die teilweise auch ineinander verzahnt sind.

Ich versuche mal, meine Ansichten dazu einigermassen strukturiert zusammenzufassen:

  1. Sterbehilfe

1.1. Einleitung

Ich unterscheide zwischen Sterbehilfe bei Todkranken, wie sie in der Schweiz und teilweise auch anderen Ländern schon lange praktiziert wird, und Sterbehilfe bei körperlich gesunden Sterbewilligen und beleuchte meine Ansichten dazu in separaten Kapiteln.

1.1. Sterbehilfe bei Todkranken

Sterbehilfe sollte heute eigentlich indiskutabel jedem Totkranken, der es wünscht, zur Verfügung stehen. Es ist völlig unersichtlich, warum der Mensch über alle seine persönlichen Belange selbst entscheiden sollen könne, ausser über den Zeitpunkt seines Todes.

Es wäre viel getan, wenn jeder, der totkrank ist, sich nach Absprache mit den Ärzten sich eine totbringende Spritze setzen darf, da sein Tod ja sowieso unausweichlich und nur eine Frage der Zeit ist.

Der Unterschied ist, dass mit Sterbehilfe der Patient:

  • selber über den Zeitpunkt bestimmt
  • unnötiges Leiden verhindert wird
  • unnötige Kosten verhindert werden
  • nicht unnötig personelle, strukturelle und medikamentöse Ressourcen gebunden werden, welche besser für Menschen eingesetzt würden, die noch einiges an Lebenszeit vor sich haben
  • Auch für die Angehörigen wird viel Stress und Unsicherheit verhindert, weil man nicht "auf Abruf" bereitstehen muss, um den Sterbenden zu verabschieden, sondern weiss, wann er seinen Abschied nimmt und ihm dann nochmals sehen kann und ihm alles sagen kann, was einem am Herzen liegt

Es gibt aus meiner Sicht kein einziges, vernünftiges Argument gegen diese Art der Sterbehilfe (sofern sie - ich wiederhole - auf Wunsch des Sterbenden geschieht).

1.2. Sterbehilfe bei körperlich gesunden Menschen

Heute ist es meines Wissens nach nirgends möglich, sich als nicht totkranker Menschen Sterbeilfe geben zu lassen.

Das hat gute Gründe: Menschen, die in psychischen Ausnahmesituationen sich das Leben nehmen wollen, sind in aller Regel erleichtert, wenn sie gerettet werden und weiterleben dürfen.

Es ist also wünschenswert, Menschen mit krisenbedingtem Sterbewunsch zu helfen weiterzuleben anstatt ihrem Wunsch nachzugeben - in ihrem eigenen Interesse.

Trotzdem gibt es Menschen, die aus persönlichen Gründen (meist aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung) immer wieder in so schwere Krisen geraten, dass ihnen schliesslich der Tod lieber ist als das Leben.

Nun müssen wir uns fragen: Ist es wirklich wünschenswert, dass diese Menschen dann verzweifelte und verstörende Aktionen unternehmen, um ihrem Leben ein Ende zu setzen, indem sie sich vor einen Zug werfen, von einer Autobahn- oder einer anderen Brücke springen oder sich erschiessen?

Es ist vermutlich kaum vorstellbar, wie verstörend es für alle ist, einen solchen Leichnam bergen zu müssen. In solchen Fällen, wo ein eindringlicher, lang bestehender und unauflöslicher Wunsch besteht, wäre es also sehr viel besser für alle Beteiligten, wenn der Betroffene nach eingehenden Besprechungen, ausführlichen Untersuchungen und sorgfältigen Bilanzierungen die Möglichkeiten hätten, auf menschenwürdige Art und Weise und ohne ihr gesamtes Umfeld zu traumatisieren aus dem Leben zu scheiden.

Und wir reden hier nicht von "Tod auf Knopfdruck", sondern von mindestens mehrmonatigen Abklärungen durch Fachpersonen, Rücksprachen mit allfälligen Nahestehenden und einem ernsthaften Bemühen, die Lebensqualität des Betroffenen nach Möglichkeit zuerst nachhaltig zu verbessern, bevor man im gegenseitigen Einvernehmen zum Schluss kommt, dass der Tod die beste Lösung ist.

Fazit: Sterbehilfe ist unter sorgfältiger fachlicher Begleitung und klaren Vorgaben ethisch, sozial, wirtschaftlich und moralisch eine unabdingbare Dienstleistung in einer Gesellschaft, in der die Selbstbestimmung einen hohen Stellenwert hat.

2. Organspenden

2.1. Einleitung

Zu Organspenden habe ich ein weitaus ambivalenteres Verhältnis als zur Sterbehilfe.

Das liegt daran, dass ich natürlich verstehe, warum man eine Organspende als wünschenswert betrachten könnte. Oft ist sie die beste Möglichkeit, einem Menschen das Leben zu retten oder seine Lebensqualität zu verbessern.

Allerdings macht mir das Ganze weitaus mehr Bauchweh als die Sterbehilfe, und zwar deshalb, weil ich die Gefahr von Entwicklungen in die falsche Richtung sehe und ausserdem die freie Entscheidung in Frage stelle.

Die verschiedenen Aspekte möchte ich der besseren Lesbarkeit wegen in eigenen Unterkapiteln ausführen.

2.2. Organspende als Möglichkeit, Leben zu verlängern

Das Spenden von Organen kann das Leben eines Menschen retten. Das ist dann wünschenswert, wenn der Mensch ansonsten jung und gesund ist und die Organspende ihm noch ein langes, aktives Leben gewährt.

Ist der Mensch hingegen schon alt und krank, dann fragt sich, ab welchem Punkt eine Organspende einfach keinen Sinn mehr ergibt. Hier wird meiner Meinung nach zu nachlässig FÜR eine Organtransplantation entschieden.

Womöglich müsste man hier auch einmal das Gesundheitssystem als solches hinterfragen. Ärzte werden dafür bezahlt, dass sie Behandlungen bzw. Eingriffe an Patienten vornehmen - sie werden nicht dafür bezahlt, Menschen vor Eingriffen zu bewahren oder ihrem Leid ein Ende zu setzen (siehe "Sterbehilfe").

2.3. Das Problem der (nicht) freien Entscheidung

Ein anderes Problem ergibt sich durch einen Umstand, den man als "Das Problem von Angebot und Nachfrage" bezeichnen könnte.

Eine Organspende kann - trivialerweise - nur dann erfolgen, wenn ein frischer Organ vorhanden ist. Gesunde Menschen müssen also einwilligen, ihre Organe zur Spende freizugeben.

Das allein ist noch kein Problem, denn es ist zunehmend immer weniger ein Problem, Menschen davon zu überzeugen, dass es ihre moralische Pflicht ist, Organe zu spenden (früher sprach man von "Christenpflicht", und dieses Denken ist tief in uns verwurzelt, unabhängig davon, ob wir gläubig sind oder nicht).

Das Problem ist ein anderes: Je mehr Organe vorhanden sind, die gespendet werden, desto grösser ist der Druck, diese auch tatsächlich zu verwenden. Das liegt auch daran, dass viele Organe nur von frisch Verstorbenen verwendet werden können - in diesem Fall entsteht ein Zeitdruck, da die Organe nicht lange lebensfähig bleiben.

Und damit steigt nun umgekehrt der Druck auf Patienten, sich ein fremdes Organ einpflanzen zu lassen, da man ja schlecht eine Spende ablehnen kann (nnatürlich kann man - aber man steht nun eben trotzdem umgekehrt unter einem moralischen Druck, die Spende auch anzunehmen).

2.4. Organspende als weiterer Treiber der Kostenexplosion

Das Ganze macht mir insofern auch Sorgen, weil eben mit der Organtransplantation weitere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, Menschen mit einem hohen Kosten- und Ressourcenaufwand am Leben zu erhalten.

Das letzte aber, was wir brauchen, sind mehr kranke Menschen, die hohe Kosten verursachen. Unsere Krankenkosten sind sowieso schon hoch genug.

Gleichzeitig sind wir moralisch verpflichtet, Organtransplantationen durchzuführen, wenn sie möglich sind, weil es ethisch fragwürdig ist, einen Eingriff NICHT zu machen, wenn er medizinisch möglich ist und ein Menschenleben damit gerettet werden kann.

FAZIT: Ich halte die Sterbehilfe für ethisch weitaus weniger bedenklich als die Möglichkeit von Organstransplantation - obwohl die Gesellschaft dies tendenziell genau andersherum betrachtet. Warum ich das so sehe, habe ich ausführlich dargelegt.

Die Frage ist wer alles Ethik und politische Korrektheit kontrolliert, definiert und steuert. Das sind sehr grosse Machtinstrumente und von grösster Bedeutung.