Wie äußert sich Autismus wirklich?

6 Antworten

Ich werde die Fragen mal alle der Reihe nach beantworten. So gut, wie es mir als Betroffene möglich ist.

Legen alle Autisten wert auf einen regelmäßigem Tagesablauf?

Nicht zwingend. Manche sind dort sehr genau, andere - wie ich zum Beispiel - nicht so extrem. Ich muss allerdings gestehen, dass ich trotzdem nicht spontan bin. Spätestens am Tag davor muss ich Bescheid wissen, was morgen ansteht. Es kann aber auch sein, dass ich selbst relativ spontan eine Planänderung vornehme. Stört dann meistens meine Mutter, die ebenfalls Autistin ist. Einen von A-Z durchstrukturierten Tagesablauf finde ich öde. Aber ich glaube, das hängt auch mit dem Alter zusammen. Als Kind war ich da noch wesentlich "empfindlicher".

Gibt es auch Autisten die Ironie verstehen und anwenden?

Durchaus. Bei mir ist das allerdings ein Zwischending. Manchmal verstehe ich Ironie, manchmal nicht, aber dann kann ich nicht sagen, ob es tatsächlich an mir lag, oder mein Gegenüber die Ironie nicht gut genug rübergebracht hat. Ich selbst benutze schon nicht selten Ironie und ab und an höre ich Ironie dort heraus, wo sie nicht ist.

Haben Autisten Angst vor sozialen Situationen?

Die Frage ist etwas schwer zu beantworten für mich, da ich zu meinem Autismus noch erschwerend eine Sozialphobie habe und daher nicht unbedingt sagen kann, welche meiner Verhaltensmuster ich mit was erklären kann. Spontan würde ich sagen, dass es individuell ist. Wir haben Probleme mit sozialen Interaktionen, was nicht unbedingt in Angst resultieren muss.

Haben Autisten Angst zu versagen oder sich zu blamieren?

Nicht unbedingt mehr als Nicht-Autisten, schätze ich. Es ist und bleibt verschieden. Manche bemerken vielleicht sogar gar nicht, dass sie sich blamieren.

Haben Autisten wirklich kein Interesse an sozialen Situationen?

Es regt mich auf, dass das noch immer behauptet wird, als wäre es eine Tatsache. (Nicht von dir, du fragst ja nur.) Die Frage ist wieder mit Ja und Nein zu beantworten. Es gibt tatsächlich Autisten, die keine Interesse daran haben, Freundschaften zu knüpfen. Das kann sich mit der Zeit allerdings auch ändern. Ich finde, man sollte keine Kontakte aufgezwungen bekommen. Oder die Person hatte bisher einfach noch nicht die passenden Leute gefunden. Doch genau so gibt es auch Leute (Autisten), die sehr gerne (mehr) Freunde hätten, sich aber nicht trauen, nicht wissen, wie sie es anstellen sollen, Angst haben usw. Da ist also nicht von Desinteresse die Rede. Sowas kann psychisch sehr belastend sein.

Aber gibt es irgendwelche Dinge die auf quasi jeden Autisten zutreffen?

Jain. Ich denke, es gibt Dinge, die jeden oder zumindest einen Großteil der Autisten betreffen, die sind jedoch alle unterschiedlich stark verteilt. Zum Beispiel das Thema Augenkontakt. Ich würde jetzt einfach mal in den Raum werfen, dass jeder Autist damit mehr oder weniger seine Probleme hat, selbst, wenn er/sie es sich noch so gut antrainiert hat, den Gesprächspartnern in die Augen zu schauen. Denn es ist nichts Natürliches. Es passiert nicht aus Reflex, sondern er/sie muss sich regelmäßig daran erinnern. (Persönlich ist Augenkontakt in 98% der Fälle absolut nicht meins.)

Was ist der Unterschied zwischen Autismus und einer Sozialphobie?

Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, Sozialphobie eine - wie die Bezeichnung bereits vermuten lässt - Phobie. Phobien kann man für gewöhnlich wegtherapieren, Autismus jedoch nicht. Autismus entwickelt sich (mit Ausnahme vom Frühkindlichen Autismus, falls ich mich nicht irre) ab dem 3. Lebensjahr, ist allerdings angeboren - Die Symptome zeigen sich nur eben erst dann. Eine Sozialphobie kommt wenn dann erst im Laufe des Lebens zum Vorschein. ... Soll heißen: Autismus ist angeboren, eine Sozialphobie nicht. Dann ist da natürlich noch der Fakt, dass Autismus sich nicht nur in sozialen Bereichen äußerst. Ein großer Fokus - finde ich - wird häufig auf die Schwächen in Interaktionen mit anderen Menschen gelegt, so dass es Außenstehenden vorkommen kann, als wäre das alles, was diese Störung ausmacht. Und da fragt man sich natürlich schnell, was der Unterschied zwischen einer Sozialphobie und Autismus ist.

Beispielsweise die Sache mit den Reizen, oder die mit den Interessen. Jemand, der "lediglich" eine Sozialphobie hat, wird wohl die blinkenden Lichter nicht als schmerzend wahrnehmen. Autisten nehmen Schmerz meistens entweder sehr stark, oder sehr schwach wahr. Duschen/Baden - was bei einigen Autisten/autistischen Kindern eine große Hürde im Alltag ist - stellt mit einer Sozialphobie keine Probleme dar. Man hat dann ja Angst vor Menschen, nicht vor Wasser. (Das war doof formuliert. Autismus zu haben heißt nicht, Angst vor Wasser zu haben, aber wenn du dich mal im Internet umguckst, wie viele Eltern damit zu kämpfen haben, ihre autistischen Kinder zum Duschen/Baden zu bringen ....)

Oder eben die Sache mit den Interessen. Ich kann da nur von mir sprechen, aber ich habe bei allen meinen Interessen einen überwältigenden Drang, jeder Person, die auch nur ein kleinen wenig Begeisterung für die Themen aufbringen kann, alles darüber zu erzählen, was ich weiß. Es ist so schlimm, dass ich nicht selten sogar besserwisserisch rüberkommen und mich null für Dinge faszinieren kann, die eben nichts für mich sind. Ich habe oft gelesen/gehört, dass einige Autisten da ein wenig obszessiv sein können. Das würde mit "nur" einer Sozialphobie wegfallen.

Wie es nun bei Autismus UND Sozialphobie aussieht: Ich weiß nur von mir, dass ich im Chat keine Probleme damit habe, über meine Interessen zu quasseln, aber im realen Leben ... Nun, da bin ich klein mit Hut.

Waren nur mal ein paar wenige Beispiele. Doch deshalb geht man auch zu Fachleuten für etwaige Diagnosen.

Wann sollte man testen ob man Autismus haben könnte?

Da gibt's keinen "perfekten Zeitpunkt" oder ein "perfektes Alter". Je besser das Masking, umso länger bleibt der Autismus unentdeckt. Oder es gibt diverse Fehldiagnosen. Bei mir war es damals so, dass ein paar Mütter im Kindergarten meiner Mutter mal den Tipp "Autismus" gegeben hatten, da einige Symptome auf mich zutrafen. Meine Diagnose hatte ich zwar erst mit 8/9/10 bekommen, aber das war wohl der erste Moment, an dem die Suche nach einem geeigneten, kompetenten Psychiater anfing. Doch dann gibt es auch Leute, die kriegen ihre Diagnose erst mit 50 oder 60.

Dennoch denke ich: Der beste Zeitpunkt ist so früh wie möglich. Je früher man weiß, was mit dem eigenen Kind los ist, desto eher kann man sich in die Thematik einlesen, darauf eingehen usw. Davon abgesehen gibt es im Kleinkindalter und bei Jugendlichen meistens noch genügend Ansprechpartner. So eine Diagnose besteht unter anderem aus Befragungen. Nicht nur das Kind wird befragt, sondern auch die Eltern, eventuell noch weitere Verwandte, die Erzieher im Kindergarten oder der Klassenlehrer/die Klasssenlehrerin. Quasi jede Person, die regelmäßig Kontakt zu dem Kind hat. Und je mehr Leute man als Psychiater befragen kann, umso leichter ist die Diagnose. Das kann bei (älteren) Erwachsenen schon ganz anders aussehen. Man kann sich nicht mehr so gut an seine Kindheit erinnern - kenne ich von mir selbst, dabei bin ich erst fast 23 -, die Eltern und Großeltern sind (längst) verstorben, man wohnt alleine, hat keine Arbeit ... Der Kreis der zu befragenden Personen wird also plötzlich sehr, sehr klein, bis - im schlimmsten Fall - nur noch der Vielleicht-Autist übrig ist. Dann wird der eben so gut es geht befragt, aber schlussendlich ist es deutlich schwerer, einen Erwachsenen zu diagnostizieren, als ein Kind. Nicht zuletzt, weil ein Erwachsener oft sein ganzen bisheriges Leben Masking betrieb. Klar, irgendetwas hatte sich immer "anders" angefühlt, einfachste Dinge erschienen wie unmögliche Aufgaben, aber ... Autismus? Und Kinder kann man einfach viel besser während dem Diagnoseverfahren und auch dem bisherigen Leben generell (als Eltern usw.) beobachten. Kinder verhalten sich - im Normalfall - so wie sie nun einmal sind. Simplifiziert formuliert.

Man sollte aber schon Gründe haben, weshalb man denkt, man (oder sein Kind) könnte Autismus haben. Also wenn man einfach so aus Spaß beim Psychiater eintrudelt und einfach so aus Spaß eine Diagnose machen lassen möchte, wird das nicht funktionieren. Jetzt wo ich so darüber nachdenke, würde ich sagen, dass der perfekte Zeitpunkt für eine Diagnose der ist, an dem der Psychiater (mit Fachrichtung Autismus - Extrem wichtig) dich oder dein Kind irgendwo zwischen die vielen anderen Termine quetschen kann.

Sorry, das war eine ziemlich lange Antwort. Und ja, das Thema ist komplex. Da blicke auch ich nicht vollkommen durch, obwohl ich bezweifle, dass irgendjemand den Durchblick hat/behalten kann.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Ich bin diagnostizierte Autistin (Keine Selbstdiagnose)👽
lisakk 
Fragesteller
 18.11.2021, 20:03

Danke für die Antwort.

Ja das Thema Autismus ist sehr komplex.

Und teilweise auch schwer zu verstehen.

Vor allem, weil natürlich jeder Autist anders ist.

Und viele Klischees eben nicht auf alle zutreffen.

Deswegen ist es wahrscheinlich auch wirklich schwer zu entscheiden, bei welchen Symptomen ( mir fällt jetzt leider kein passenderes Wort ein) man einen Autismus Test machen sollte und wann nicht.

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Ja ich mag es wenn jeden Tag etwa das gleiche passiert. Aber wenn zwischendurch mal was anderes passiert stört mich das nicht. Ja ich verstehe Ironie sehr gut. Ja manchmal kann es schon vorkommen. Nein Angst zu versagen nicht. Es ist nicht desinteresse. Es ist eher so das soziale Situationen schwierig sind. Bei sozialer Phobie hat man grundsätzlich Angst vor anderen Menschen und Kontakt mit ihnen. Bei Autismus hat man nur in bestimmten Situationen Angst

Deine Frage liest sich wie ein Inhaltsverzeichnis von einem Buch über Autismus.

Nun gut, bin auch betroffen.

Autistische Menschen, denken anders. Darum gibt es oft Missverständnisse, was nicht selten negativ endet. In diesem Fall machen Autisten immer das gleiche wie jeder andere auch. Man versucht sich anzupassen und sucht nach halt und Sicherheit.

Stelle dir vor, du lebst in ein fremdes Land. Du beherrschst zwar die Sprache, kennst aber die Kultur des Landes nicht. Nun hast du zwei Möglichkeiten. Totaler Rückzug, oder ständig lernen, obwohl du vieles nicht nachvollziehen kannst. Immer mit dem Wissen, du wirst niemals ein Einheimischer.

So geht es uns Autisten. Jeder versucht irgendwie auf dieser Welt in dieser Welt klarzukommen. Manche mit mehr, andere mit weniger Erfolg.

Ich hoffe du verstehst was ich meine. Auf jeden einzelnen Punkt, kann man nicht eingehen, es sind zu viele.

Wann sollte man testen ob man Autismus haben könnte?

Das musst du für dich selbst entscheiden. "Viel Wissen, bringt viel Kummer" Manchmal ist es aber auch von Vorteil, wenn man wissen möchte, was ist mit mir los?

Wenn du einen solchen Test machst, musst du auch mit dem Ergebnis klarkommen.

"Mir ging es gut, bis ich zum Arzt ging."

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung
lisakk 
Fragesteller
 17.11.2021, 19:39

Ja ich weiß, dass es viele Fragen sind.

Aber leider sind es alles Fragen die mich beschäftigen.

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Das sind zu viele Fragen. Bin Asperger und habe einen völlig unstrukturierten Tagesablauf, empfinde Termine als einschränkend. Da ich selbstständig arbeite, funktioniert das ganz gut.

Es gibt halt sehr unterschiedliche Menschen auch im autistischen Spektrum.

lisakk 
Fragesteller
 17.11.2021, 19:39

Ja ich weiß, dass es viele Fragen sind.

Leider sind es alles Fragen die mich beschäftigen.

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swiss1  18.11.2021, 00:38
@lisakk

Denkst du, dass du dazu gehören könntest? Oder jemand in deinem Umfeld?

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lisakk 
Fragesteller
 18.11.2021, 00:47
@swiss1

Ich kann nicht 100% ausschließen, dass ich dazu gehöre.

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swiss1  18.11.2021, 02:15
@lisakk

Hast du bereits Online-Tests zum Thema Asperger gemacht? Kannst mir auch direkt eine Nachricht schreiben, wenn du magst.

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Gibt es auch Autisten die Ironie verstehen und anwenden?

Ja.

Haben Autisten Angst zu versagen oder sich zu blamieren?

Nicht alle.

Haben Autisten wirklich kein Interesse an sozialen Situationen?

Das ist ein Stereotyp, was nicht an alle stimmt.

Aber gibt es irgendwelche Dinge die auf quasi jeden Autisten zutreffen?

Ja:

  • Probleme mit nonverbarer Kommunikation
  • Unflexibilität
  • Repetitivität

Wenn jemand diese bei dir merkt, dann solltest du Teste machen. Wenn diese deinen Verdacht bestätigen, dann lass dich einweisen.