Was ist Autismus für euch?

Das Ergebnis basiert auf 42 Abstimmungen

Eine Andersartigkeit 48%
Eine Behinderung 19%
Eine Störung 19%
Etwas Anderes 10%
Eine Krankheit 5%

21 Antworten

Vom Fragesteller als hilfreich ausgezeichnet
Eine Andersartigkeit

Autismus ist eine Art der Neurodiversität. Am ehesten kann man sie noch als neurologische "Störung" oder "Behinderung" ansehen, obgleich ich argumentieren würde, dass oftmals - wenn auch nicht immer - die Gesellschaft uns Autisten behindert und nicht unser Autismus selbst.

Eine Krankheit ist es definitiv nicht. Das sollte jedem bewusst sein. Die Begründung, es stünde im ICD (International Classification of Diseases) ist nichtsaussagend, denn genau dort steht Autismus unter der Rubrik "Entwicklungsstörung". Selbstverständlich hat das ICD und das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) nicht nur Krankheiten oder mentale Störungen aufgelistet. Was denkt ihr/Was denken manche Leute, wie lange der Name wäre, wenn die das so nennen würden, wie all die Störungen, Krankheiten, Behinderungen etc. pp. die sie auflisten? Die Abkürzung wäre nicht mehr einfach nur ICD oder DSM, sondern eher ICDPJEZMNAPOQWYLSRjdsnjsjsdbd.

Und selbst wenn es dort als Krankheit aufgelistet wäre: Neurotypische Leute reden über Autismus. In einigen Fällen ist das wie ein Virus. Muss man sich in Acht vor nehmen. Denn woher wissen die, was "krank" ist und was anders? Woher wissen die, ob die Umwelt und die Reaktion auf Autismus, der Umgang mit Autismus, nicht viel eher krank/gestört ist?

Außerdem leidet das Thema Autismus viel zu sehr unter einem neurotypischen Narrativ, welches erst in den letzten Jahren langsam aber sicher geändert wird. Das Sprachrohr wird denen gegeben, die aus eigener Erfahrung davon erzählen können: Nämlich Autisten selbst.

Nicht alles, was anders ist, ist krank oder gestört, doch viele neurotypische Leute denken das leider.

Ich mag meinen Vergleich mit dem Fisch in der Wüste. Wenn man einen Fisch in die Wüste bringt (eigentlich reicht auch nur irgendein Ort ohne Wasser, aber ich will es extrem haben), stirbt er. Weshalb? Weil sein Körper nicht auf ein Leben in der Wüste angepasst ist. Nun, würde irgendjemand diesen Fisch - diesen toten Fisch - als "krank" oder "gestört" bezeichnen, weil er in der Wüste (bzw. auf dem Trockenen) nicht überleben kann? Ich glaube nicht.

Und ziemlich genau so oder so ähnlich verhält es sich mit uns Autisten. Nur ist es eben statt dem Körper unser Gehirn und zugegeben: Wir sterben nicht aufgrund unseres Autismus.

Ebenfalls ist eine Krankheit für mich etwas, was mich einschränkt. Was meinen Körper, meine psyschische Gesundheit, angreift. Tut er das? Nein.

Autismus ist etwas Neuronales. Hier geht es nicht um die Psyche, nicht um das Verhalten, nicht um Krankheiten, nicht einmal unbedingt um Störungen, sondern um ein "anderes Gehirn". Eine Art der Neurodiversität, wie bereits erwähnt.

Aber vielen fällt es schwer, zu akzeptieren, dass es nichts Schlimmes ist. Es ist schwer, die Sache mit der Akzeptanz. Was nicht "normal" ist, wird komisch beäugt, es wird als "Störung" betitelt und (sogar teils sehr gefährlichen) "Heilmethoden" gesucht.

Früher hätte ich noch gesagt, Autismus ist eine Entwicklungsstörung. Jedoch, bitte, sag' mir mal jemand: Wo genau ist meine Entwicklung bitteschön gestört?

Aus diesem Grund kann Autismus auch nicht geheilt werden. Es ist auch nicht nötig, es zu heilen. Weshalb sollte man etwas oder besser gesagt jemanden heilen, der nie kaputt war? Wenn man sich z.B über die ABA-Therapy (Applied Behavior Analysis Therapy) schlaumacht, wird man schnell bemerken, dass der Quatsch nicht nur immens teuer ist - bis zu 40 Stunden die Woche (So viel arbeiten noch nicht einmal manche Erwachsene!), bereits vom Kleinkindalter an -, sondern dass er auch traumatisierend für die autistischen Kinder ist. Denn ABA befürwortet Masking und die Konsequenzen davon sind solch tolle Dinge wie

  • Emotionaler Stress
  • Angst
  • Verspätete Autismus-Diagnose bzw. einige Fehldiagnosen
  • Identitätsverlust
  • PTBS (Ja, Kinder die durch ABA mussten haben ein ziemlich hohes Risiko, dem zum Opfer zu fallen)
  • Depressionen
  • Suizidgedanken/Suizidversuche/Suizid

Der einzige Weg, meinen Autismus zu heilen, wäre, mein Gehirn rauszunehmen und es gegen ein neurotypisches Gehirn zu tauschen. Oder mein Gehirn anderweitig zu verändern. Mein Gehirn, nicht mein Verhalten. Denn ein Kind, dass nach intensiver ABA-Therapy "weniger autistisch" oder gar "neurotypisch" erscheint, ist nicht "geheilt". Es ist nicht "frei vom Autismus" - Es maskiert sich! Großer Unterschied, riesiger Unterschied, Dimensionen an Unterschied. Viele Autisten können sich neurotyisch verhalten (Masking). Daher ist Autismus keine Sache des Verhaltens. Keine Verhaltensstörung. Das Gehirn ist der entscheidende Faktor und das lässt sich - zum jetzigen Standpunkt - nicht so leicht ändern.

Aber selbst wenn man mein Gehirn herausnimmt, es verändert, es wieder reinsetzt und plötzlich mein Autismus weg ist (bzw. wäre, ist ja alles (noch?) nicht möglich), so ist nicht nur der weg, sondern auch meine gesamte Persönlichkeit. Es tut mir leid (nein, tut es mir nicht), doch Autismus ist nichts, was sich wegignorieren lässt. Mein Autismus bin ich, ich bin mein Autismus. Das ist kein "sich hinter die Diagnose stellen", kein "Aber du bist viel mehr als deine Diagnose", nein. Es ist die Wahrheit. Und mit dieser Wahrheit kann ich sehr gut leben. Mein gesamtes Leben ist Autismus. Von dem ersten Mal, als ich das Licht der Welt erblickte, bis zum letzten Mal, wenn ich meinen letzten Atemzug machen werde: Autismus. Schwarze sind auch schwarz. Wer hätte es gedacht! Sie kommen als Schwarze auf die Welt, sie bleiben Schwarze, sie sterben als Schwarze. Und Asiaten kommen als Asiaten auf die Welt, bleiben Asiaten und sterben als Asiaten.

Deshalb bevorzugen viele Autisten - wenn auch sicherlich nicht alle und das muss ebenfalls akzeptiert werden - Identity-First-Language ("Autist"/"autistische Person") anstelle von Person-First-Language ("Person mit Autismus"). Denn mein Autismus ist keine Handtasche, die ich mal mitnehme und mal nicht. Ich befülle sie nicht am einen Tag bis die Nähte fast reißen und am nächsten ist da nur mein Schlüssel, ein Päckchen Taschentücher und mein Smartphone drin. So funktioniert das nicht.

Die Idee mit der Person-First-Language ist ja ganz süß. Aber auch verdammt neurotypisch. Das ergibt bei vielen Behinderungen etc. Sinn, allerdings nicht bei Autismus. Person-First-Language ist wortwörtlich dafür da, damit sich (nicht-autistische bzw. neurotypische) Leute beruhigen können, mit dem Wissen, das "hinter dem Autismus noch ein Mensch steckt". Deshalb Person-First. Und ganz ehrlich? Wenn jemand sich ernsthaft daran erinnern muss, dass wir Autisten vollwertige Menschen sind, dann sind zumindest wir (Autisten) nicht gestört.

Ebenfalls möchte ich noch kurz erwähnen - weil leider ein paar Leute hier geschrieben haben, dass es auf die Ausprägung ankäme -, dass Autismus nicht von "schwach" zu "stark" geht. Dieser Artikel erklärt das besser als ich es jemals könnte: https://neuroclastic.com/its-a-spectrum-doesnt-mean-what-you-think/?fbclid=IwAR1hW4aZuyoUfmxIPCD37uNSNuxNtwI9lxHke5mnITWMHRD4asjG5qvQ5qg

Um zurück zu den Fischen zu kommen: Ist ein Hai mehr Fisch als ein Guppy? Nein.

Autisten, die sich beispielsweise nicht verbal artikulieren können, sind nicht "stärker autistisch". (Wird in dem Artikel sehr gut erklärt, weshalb.) Ein Autist, der sich gar nicht oder nur mit gefährlichen Meltdowns mitteilen kann, war leider nie in den richtigen Händen aufgehoben. In Händen, die wussten, dass es noch viele andere Wege gibt, sich mit der Umwelt zu verständigen.

So, ja, jetzt bin ich fertig. Das ist Autismus für mich.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Ich bin diagnostizierte Autistin (Keine Selbstdiagnose)👽
Alpaka700 
Fragesteller
 13.09.2022, 17:15

Danke für deine ausführliche Antwort 😊

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Ich finde, das ist schwer zu sagen. Da ich selbst Autist bin, werde ich aber versuchen, zu beschreiben, inwiefern ich den einzelnen Antworten zustimme:

Eine Krankheit - Das ist für mich persönlich noch am einfachsten zu beantworten. Eine Krankheit ist eine meist temporäre Funktionsstörung einzelner Organe. Da das auf Autismus nicht zutrifft, würde ich diesen nicht als Krankheit einstufen.

Eine Behinderung - Nun ja, das hängt etwas von der Definition einer Behinderung ab, was auch der Grund dafür ist, das Autismus meines Wissens in manchen Ländern als Behinderung eingestuft wird und in anderen nicht. Ich persönlich fühle mich durch meinen Autismus aber keineswegs behindert und möchte deshalb auch nicht als Behinderter betrachtet werden. Von daher würde ich Autismus nicht als Behinderung einstufen, obwohl das eine sehr persönliche, subjektive Meinung ist.

Eine Störung - Ehrlich gesagt fühlt es sich „falsch“ an, das zu sagen, aber in gewisser Weise stimme ich dem zu. Autismus ist (laut Definition) eine „tiefgreifende Entwicklungsstörung“. Natürlich ist das prinzipiell auch auf den Aspekt der Behinderung übertragbar, allerdings fühle ich mich persönlich wie gesagt nicht wirklich behindert - naja, richtig „gestört“ auch wieder nicht, aber ich würde Autismus definitiv eher als Störung definieren als diesen als Behinderung zu definieren.

Eine Andersartigkeit - Ja, definitiv. Da gibt es ehrlich gesagt nicht viel zu sagen, außer den guten alten Spruch „Different, not less“. Schließlich unterscheiden sich Autisten stark von Neurotypischen, also kann man schon von einer Andersartigkeit sprechen, würde ich sagen.

Vor allem sehe ich aber eher die Vorteile und die positiven Aspekte als die Nachteile vom Autismus. Von daher sollte dieser meiner Meinung nach grundsätzlich nicht nur im negativen Kontext stehen, nicht zuletzt auch deshalb, weil wir sowieso nichts daran ändern können. Die Welt ist so, wie sie ist, also sollten wir am Besten grundsätzlich positiv bleiben :)

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung
Eine Andersartigkeit

Durch die neuronale Störung nehmen Autisten ihre Umgebung anders wahr als Neurotypische.
Neurodiverse können relativ schnell in Stress geraten, wenn ihre Sinne überfordert werden, weil der Reizfilter miserabel arbeitet.

Wir entsprechen auch (sehr) oft nicht dem, was die Gesellschaft von uns erwartet.
Oder wir kommen diesem Bild zwar nahe, aber nur, weil wir uns - mehr oder weniger stark - dem Masking hingeben.

Anderssein äußert sich teils in keinen oder kaum Wert auf Höflichkeitsfloskeln legen.
Direkt sagen, was gerade gedacht wird und eine Frage auf der Sachebene beantworten, wenn vielmehr eine Antwort auf psychischer Ebene gewünscht war.

Diese Andersartigkeit bescherte Autisten immer wieder das Gefühl, auf dem falschen Planeten zu leben.
Aber sie sind nicht in ihrer eigenen Welt. Egal, wie oft das einige behaupten.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – ASS-Diagnose mit 50 / über 20 Jahren im Thema
Eine Störung

hm, es gibt sicherlich autisten, die sich so am rande des spektrums befinden, dass sie vermutlich ein fast normales leben führen können und ihren autismus vielleicht sogar als stärke sehen und zb. für ihren beruf nutzen können, aber es gibt auch solche, die permanent auf fremde hilfe angewiesen sind, die zum beispiel allein nicht mal das haus verlassen könnten, weil sie sich verlaufen würden. diesen menschen den status einer störung oder gar behinderung abzuerkennen würde bedeuten, dass man sie wie ganz normale menschen behandelt, also sie quasi sich selbst überlässt. das heisst: kein behindertenausweis, keine von der krankenkasse bezahlte therapie, kein platz im betreuten wohnen, keine haushaltshilfe, kein integrationshelfer, der neben einem in der schule sitzt und bei den hausaufgaben hilft, kein nachteilsausgleich bei den schulnoten, usw. das wäre dann die konsequenz, wenn man die sache ganz sachlich und logisch zu ende denkt.

Eine Andersartigkeit

Die sind halt etwas anders aber das ist nicht schlimm Finde ich^^🖤

FrecherBubi  13.09.2022, 12:43

Es gibt Autisten welche weder reden noch sonst irgendwie sich selber versorgen können und unter massiven Anfällen leiden, dass ist dann schlimm.

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