Was hat diese Karikatur mit der Radikalisierung/Wirtschaftskrise zutun?

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Die 1929 ausgebrochene Weltwirtschaftskrise führte zu einem wirtschaftlichen Abschwung. 1930 wurde in Deutschland Heinrich Brüning Reichskanzler. Seine eigene Partei war die Deutsche Zentrumspartei (kurz: Zentrum; Vertretung des politischen Katholizismus) Seine Regierung hatte im Reichstag keine Mehrheit. Daher war sie stark vom Reichspräsidenten (Paul von Hindenburg) abhängig. Dieser konnte sie mit seinen Befugnissen, unter anderem dem Recht zu Notverordnungen nach Artikel 48 Absatz 2 der Verfassung, stützen.

Die Regierung Brüning betrieb eine Deflationspolitik ( https://de.wikipedia.org/wiki/Deflationspolitik ).

Sie wollte den Staatshaushalt, der zunehmende Schwierigkeiten bereitete (Schulden, abnehmende Steuereinnahmen, zunehmende Ausgaben für Sozialleistungen aufgrund der Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise), ausgleichen. Dazu gab es Einsparungen (Kürzungen von Gehältern, Löhnen und Pensionen im öffentlichen Dienst, Abbau von Sozialleistungen, Stopp staatlicher Baumaßnahmen), teilweise Steuererhöhungen (direkte Steuern auf Lohneinkommen und Umsätze, vor allem aber indirekte Besteuerung durch Verbrauchssteuern), Versuche zu Lohnsenkungen und Preissenkungen, Schutzmaßnahmen für die Landwirtschaft (höhere Zölle und Vorschriften für einen Mehrverbrauch heimischer Erzeugnisse, vor allem von Roggen), Verselbständigung der Arbeitslosenversicherung.

Erhofft wurden Gewinne im Außenhandel durch Verbilligung von deutschen Produkten.

Krisenverschärfung: Die Deflationspolitik führte, auch weil bei dem Leiden auch anderer Staaten unter der Weltwirtschaftskrise für große deutsche Außenhandelsüberschüsse kaum realer Spielraum war, zu einer Verschärfung der Krise. Der Abschwung der Konjunktur wurde vorangetrieben (infolge sinkender Nachfrage sinkende Produktion industrieller und gewerblicher Güter, dadurch sinkendes Bruttosozialprodukt). Die Arbeitslosigkeit nahm stark zu, die realen Löhne sanken, weil die Preissenkungen nicht im gleichen Ausmaß wie die Lohnsenkungen eintraten. Die Kaufkraft der deutschen Bevölkerung nahm ab.

Bei einem Scheitern von Verhandlungen bei Tarifkonflikten war damals eine Schlichtung vorgeschrieben. Letztlich lag es beim Reichsarbeitsminister, einen Schiedsspruch für ein verbindliches Schlichtungsergebnis zu erklären. Für die Metallindustrie in Berlin gab es am 10. Oktober einen Schiedsspruch mit einer Lohnkürzung von 8 % für Erwachsene und 6 % für Jugendliche. Am 8. November kam ein Schiedsspruch mit gleichem Ergebnis (nur durch eine die Lohnsenkung teilweise verschiebende zeitliche Staffelung gemildert), den der Reichsarbeitsminister Adam Stegerwald für verbindlich erklärte.

Preissenkungen versuchte die Regierung durch Verhandlungen mit Industrie und Handel zu erreichen. Ein Preisabbau geschah aber in der Praxis nicht im gleichen Ausmaß wie der Lohnabbau.

Radikalisierung: Schwierigkeiten, Not, Elend und Unzufriedenheit stiegen. Extremisten, die grundsätzliche Gegner einer parlamentarischen Demokratie waren, konnten dies nutzen. Bei der Reichstagswahl am 14. September 1930 erreichte die rechtsextreme Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) sehr große Gewinne, auch die linksextreme Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) erreichte einigen Anstieg.

Tolerierungspolitik der SPD: Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) war nach der Reichstagswahl mehrheitlich zu einer (begrenzten) Tolerierung der Regierung Brüning bereit (zumindest keine Unterstützung eines Misstrauensantrages gegen die Regierung oder eine Abstimmung im Reichstag für eine Forderung nach der Aufhebung einer Notverordnung). Brüning äußerte eine Bereitschaft zu einem gewissen Entgegenkommen, Geldwertstabilität wurde von vielen auch in der SPD nach den schlimmen Erfahrungen der Inflation für wünschenswert gehalten, es drohte ein Sturz der SPD-geführten Regierung (zusammen mit Zentrum und DDP [Deutsche Demokratische Partei]) in Preußen, die SPD folgte einer Logik des kleineren Übels. Unter den gegebenen Umständen hätte ein Zufallbringen der Regierung Brüning zu einer noch autoritären und weiter rechts stehenden Regierung geführt, möglicherweise mit den Nationalsozialisten als einer wichtigen Kraft.

Die SPD stand dabei allerdings auch kritisch zu einer zu einseitigen Belastung der Arbeitslosen und der Arbeitnehmer (vor allem der leicht kündbaren).

ein Artikel mit Kritik und Hinweis auf das Hervorrufen verstärkter Unruhe durch eine Politik der Lohnkürzungen:

Von Brüning bis Bolle. Notverordnung – Lohnabbau - Milchpreis. In: Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. 147. Jahrgang, Nr. 561. Morgenausgabe, 30. November 1930, S. 1 – 2.

S. 2: „Der Index der Lebenshaltungskosten ist um 1,9 Proz. gefallen. Was hat das zu besagen gegenüber den Lohnkürzungen um 8 und mehr Prozent? Eine Preissenkungskampagne, der ins Gewicht fallende Preissenkungen nicht nachfolgen, wird das Gegenteil von innerer Beruhigung hervorrufen. Der Eindruck, den die Bevölkerung heute hat, ist der, daß zwar der Preisabbau schon zu Ende ist, der Lohnabbau aber weitergeht. Man spricht vom Preissenkungsschwindel, man fühlt sich b e t r o g e n - und man hat Grund dazu.“

Karikatur

Die Karikatur von Alfred Beier-Red (unten rechts steht das Kürzel AB) erschien auf der Titelseite der kommunistisch eingestellten deutschen Satirezeitschrift Eulenspiegel, 3. Jahrgang. Nr. 12. Sondernummer: Friede auf Erden, Dezember 1930.

Der Titel „Friede auf Erden“ bezieht sich auf das im Dezember stattfindende Weihnachtfest. In der Bibel, Neues Testament, Lukas 2, 14 heißt es in der Weihnachtsgeschichte in einem Lobgesang der Engel: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.“

Dies hat besonders Bedeutung in Bezug auf Heinrich Brüning als Politiker einer Partei, die sich als christlich orientiert verstand.

In der Karikatur ist Heinrich Brüning in einem schwarzen Mantel bzw. einer schwarzen Anzugjacke zu sehen, mit Brille und einem Kreuz auf der Stirn (christliches Zeichen). Ihm gegenüber steht ein ziemlich dünner, etwas abgemagerter Mann, als Arbeiter/Proletarier erkennbar (einfache Kleidung, Schiebermütze). Brüning sagt zu ihm mit erhobenem Zeigefinger nach oben hinweisend: „Sehen Sie nur immer gut nach oben; dann wird es Ihnen schon leichter werden“ Der Arbeiter schaut, die Hände in seinem Taschen nach oben. Dort schwebt eine große Seifenblase mit der Aufschrift „Preisabbau“. Ein links stehender, untersetzter dicklicher Mann in gehobener Kleidung (Hemd, Anzug, Fliege) mit Brille und einer Tasse mit schaumiger Flüssigkeit bläst mit einem Rohr eine weitere solche Seifenblase. Seifenblasen können symbolisch für Illusionen stehen. Und oben rechts ist auch eine Seifenblase zu sehen, die zerplatzt. Der dickliche Mann links hat eine Zeitung mit dem Titel „Vorwärts“ in seiner Jackentasche, ist also als Sozialdemokrat gekennzeichnet. Rechts am Bildrand steht ein Mann mit Zylinderhut, der dem Arbeiter, der den Kopf nach oben richtet, von ihm unbemerkt mit einem Messer, das die Aufschrift „Lohnabbau“ trägt, gerade ein großes Stück von dem Botlaib abgeschnitten hat, den der Arbeiter unter seinen linken Arm eingeklemmt hält, und ist dabei, das Stück in die eigene Hand zu nehmen.

Die Karikatur ist ein Angriff auf die Deflationspolitik der Regierung Brüning. Thema ist der Lohnabbau, der nicht wie von Brüning versichert, tatsächlich gleichermaßen von einem Preisabbau begleitet ist. Der Angriff richtet sich auch gegen kapitalistische Unternehmer, die Lohnsenkungen fordern und durchgesetzt bekommen, was als Diebstahl dargestellt wird, und gegen die SPD, die Brüning Politik toleriert. Die Deflationspolitik verstärkte politische extreme Tendenzen. Die Karikatur ist ein Beispiel, wie von einem kommunistischen Standpunkt aus politisch agitiert wird.

Dietrich Grünewald, Studien zur Literaturdidaktik als Wissenschaft literarischer Vermittlungsprozesse in Theorie und Praxis : zur didaktischen Relevanz von Satire und Karikatur, verdeutlicht am Beispiel der satirischen Zeitschrift Eulenspiegel/Roter Pfeffer, 1928-33. Dissertation Gießen 1976, S. 285:

„In der Titelzeichnung von Beier - Red, 12, 1930, kommentiert der EULENSPIEGEL diese Wirtschaftspolitik. Der Untertext "Brüning : Sehen Sie nur immer gut nach oben; dann wird es Ihnen schon leichter werden“ wird ironisch kontrastiv mit Inhalt gefüllt. Der Prolet schaut nach oben - er schaut Seifenblasen mit der Aufschrift "Preisabbau" nach, die von einem wohlgenährten SPDisten (VORWÄRTS in der Jackentasche; Anspielung auf die Tolerierungspolitik der SPD) in die Luft geblasen werden und auf die Brüning (Portrait-Karikatur, der Zentrumspolitiker trägt ein Kreuz auf der Stirn) mit erhobenem Zeigefinger weist. Doch während die erste Seifenblase zerplatzt, schneidet unbemerkt ein Kapitalist (Zylinder; sichtbar am rechten Bildrand nur Kopf mit verschmitztem Grinsen, Hände und Arme) mit einem Messer mit der Aufschrift "Lohnabbau" ein kräftiges Teil des Brotes ab, das der Proletarier unter dem Arm hält. Die anschauliche, eindrucksvolle Zeichnung dürfte umso mehr Relevanz haben, als die dargestellte Situation der täglichen Erfahrung des Arbeiters entsprach, deren abstrakter Mechanismus hier in den Personen des Politikers und des Kapitalisten konkretisiert und begründet wird.“

anonymous2064 
Fragesteller
 12.01.2021, 17:00

Wow Danke sehr

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Brünings Deflationspolitik? Das Brüning sinkende Preise verspricht, welche sich aber als platzende Seifenblasen herausstellen um die Leute abzulenken, während er den Leuten hintenrum den Lohn kürzt. Der Mann mit dem Kreuz soll Brüning sein und ebenso der Titel Friede auf Erden ist eine Anspielung auf Brünings Mitgliedschaft im Zentrum.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung

Fange doch mal damit an, die Karrikatur zu beschreiben. Was siehst du? Auch auf Details achten. Vom äußeren zum inneren gehen. Also erst das beschreiben, was du siehst. Dann fällt es dir leichter, sie zu deuten! Du schaffst das! Wir glauben an dich!

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Bachelor in Sinologie (HF) und Geschichte (NF)