Warum setzen sich Parteien kaum für Volksentscheide auf Bundesebene ein?
4 Antworten
- Es werden im Februar ca. 59,2 Millionen Menschen wahlberechtigt sein.
- In der letzten Legislaturperiode waren es ca. 800 Gesetzesvorlagen (alle Zahlen der Einfachheit halber grob gerundet)
- Bei 200 Sonntagen in 4 Jahren müssten diese Menschen jeden Sonntag über 4 Gesetze abstimmen
- Eine Bundestagswahl kostete ca. 100 Mio. € (Fünf erstaunliche Fakten über die Bundestagswahl - Bundestagswahl 2021). Bei 800 Abstimmungen wären das dann 80 Mrd. €, die dem Haushalt fehlen würden
- Jede Wahl braucht jede Menge freiwillige Helfer. Ob Du die dann noch jeden Sonntag finden würdest?
- Jede Bürgerin und jeder Bürger müsst sich dann also von Montag bis Samstag über 4 Gesetzesvorlagen informieren und diese auch noch verstehen. Ich wage zu bezweifeln, dass auch nur 1% Gesetze z.B. zum Steuerrecht verstehen könnte.
- Dazu kommen dann noch die Gesetze des jeweiligen Bundeslandes und der Kommune.
Der Einwand, man könnte ja nur über die wichtigen Gesetze eine Volksabstimmung durchführen bringt die Frage auf, wer entscheidet, welche Anträge wirklich wichtig sind.
Von der Einflussnahme der Medien auf die Einzelnen brauche ich nicht einzugehen, das liegt dann auf der Hand.
Es macht also keinen Sinn, sich als Partei in die Richtung zu engagieren.
Kleiner Ausritt in die Praxis :
In meinem 5.000-Seelen-Dorf kam es letztes Jahr zu einem Bürgerentscheid, ob die alte Schule für 16 Mio. € saniert werden soll oder stattdessen in einen vermutlich günstigeren Neubau investiert werden sollte. 75% der abgegebenen Stimmen waren für die Sanierung. Fakten gab es exakt KEINE, denn es wurde nicht einmal ein erstes Angebot über den Neubau eingeholt und die Sanierung war nur eine Grobkostenschätzung ohne detaillierte Planung. Jetzt ist der Gemeinderat und die Verwaltung an dem Ergebnis gebunden und wir werden nie erfahren - außer es kommt eine private Gegeninitiative zustande -, wie viel die Gemeinde jetzt draufzahlt und deswegen in 2-3 Jahren überschuldet sein wird.
Danke 😊 und gerne.
Noch eine kleine Anekdote - zwar nicht auf Bundesebene aber zum Aufzeigen, was bei Direktabstimmung passieren kann:
Wir hatten letztes Jahr u.a. auch über den Kreistag abzustimmen. Beim Austragen der Flyer habe ich mit etwas über 100 Personen zwischen 14 und 85 Jahren (geschätzt) Kontakt und die gefragt, was der Kreistag macht und über wie viel Mittel dieser verfügt. Die "Wissensquote" für beides lag bei exakt 0% - aber man macht halt als interessierter Bürger ein Kreuzchen 🤔. Und wen wählt man? Die bekannten Namen, also vorrangig z.B. Bürgermeister. Aufgabe des Kreistages ist u.a.: "Der Landkreis verwaltet in seinem Gebiet ... alle die Leistungsfähigkeit der kreisangehörigen Gemeinden übersteigenden öffentlichen Aufgaben" => man wählt diejenigen, über die eigentlich Aufsicht geführt wird - macht also den Bock zum Gärtner (eine etwas bösartige Auslegung).
=> Das Wahlvolk informiert sich bereits jetzt schon nicht über Zahlen, Fakten und Abhängigkeiten in Politik und Verwaltung in der erforderlichen Tiefe.
Insofern muss ich aus der Praxis heraus dem Beitrag von Fantho auch widersprechen. Es liest sich immer so schön, würde aber unseren Staat letztendlich zum Erliegen bringen (naja, ein wenig Wahlkampf ist auch dabei 😉😂)
Weil es eine bürgerliche "Demokratie" ist und Basisdemokratie deshalb unerwünscht.
Von den bürgerlichen Parteien steht zumindest die Linke noch für mehr Basisdemokratie mit Volksentscheiden. Aber mit nur 5% kann sie das nicht durchsetzen. Nicht bürgerliche Parteien wie DKP und RKP (etc.) stehen natürlich für echte Rätedemokratie.
Wenn ich grade sehe wie viele mittlerweile die AfD wählen wollen, oder gar als Regierung haben wollen, bin ich Froh das es keine Volksentscheide gibt.
Henne-Ei-Problem. Das AfD-Hoch ist eine Folge des Systems. Hätten wir ein anderes, unter anderem direktdemokratischeres, System, gäbe es keine unzufriedenen/desinformierten/psychisch Kranken, die ihre Unzufriedenheit in Nationalismus und Rechtsextremismus umleiten.
Weil in Gesetzen festgelegt ist, für was es Volksentscheide geben soll. Und da gehören "0815.Gesetze" nicht dazu. Da geht es eher um territoriale Sachen oder ähnliches.
Vielen Dank für deine ausführliche und aufschlussreiche Antwort. Besonders interessant fand ich dein Beispiel aus der Praxis deiner Gemeinde. Du hast mir gerade die Augen geöffnet.