War das Sozialistengesetz verfassungskonform?

Altersweise  05.11.2021, 17:48

Welches Sozialistengesetz? In welchem Land? Zu welcher Zeit?

jan456928 
Fragesteller
 05.11.2021, 17:49

Das Sozialistengesetz (galt von 1878 bis 1890) des Deutschen Reiches zur Unterdrückung der Sozialisten.

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Ja, das »Sozialistengesetz« („Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“) vom 21. Oktober 1878 ist nach dem formalen Maßstab der damaligen Verfassung (Verfassung des Deutschen Reiches vom 16. April 1871) gerade noch verfassungskonform gewesen.

Das Gesetz ist entsprechend den Bestimmungen der Verfassung über die Gesetzgebung zustandegekommen.

Der Gesetzesentwurf ist vom Reichstag am 19. Oktober 1878 mit 221 gegen 149 Stimmen als Gesetz beschlossen worden. Die erforderliche absolute Stimmenmehrheit (Artikel 28) ist damit erreicht worden. Auch der Bundesrat hat am 21. Oktober 1878 zugestimmt (Artikel 5: „Die Reichsgesetzgebung wird ausgeübt durch den Bundesrath und den Reichstag. Die Übereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen ist zu einem Reichsgesetze erforderlich und ausreichend.“). Kaiser Wilhelm I. hat das Gesetz am 21. Oktober 1878 unterzeichnet und es ist am 22. Oktober 1878 mit seiner Verkündigung in Kraft getreten (Artikel 17: „Dem Kaiser steht die Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgesetze und die Überwachung der Ausführung derselben zu. Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers werden im Namen des Reichs erlassen und bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt.“).

Überlegt werden kann, ob Grundrechte verletzt worden sind. Die Reichsverfassung von 1871 enthielt keinen Grundrechteteil. Grundrechte standen aber in den Verfassungen der deutschen Einzelstaaten.

Das »Sozialistengesetz« hat in mehrere Grundrechte eingegriffen:

  • persönliche Freiheit: Möglichkeit von Verhaftungen und Gefängnisstrafen (§ 17 – 20 und § 25), Möglichkeit von Aufenthaltseinschränkungen mit einem Verbot des Aufenthalts in bestimmten Bezirken und Ortschaften (§ 22)
  • Meinungs- und Pressefreiheit: Verbot von Druckschriften mit sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise (§ 11)
  • Versammlungsfreiheit: Auflösung von Versammlungen, in denen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen auftreten, Verbot von Versammlungen, die zur Förderung solcher Bestrebungen bestimmt sind (§ 9)
  • Vereinigungsfreiheit: Verbot von Vereinen und Verbindungen mit sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen (§ 1)

Als Beispiel kann die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat (größter deutscher Einzelstaat im Deutschen Reich) vom 31. Januar 1850 genommen werden.

Artikel 5:

„Die persönliche Freiheit ist gewährleistet. Die Bedingungen und Formen, unter welchen eine Beschränkung derselben, insbesondere eine Verhaftung zulässig ist, werden durch das Gesetz bestimmt.“

Artikel 27:

„Jeder Preuße hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern.

Die Censur darf nicht eingeführt werden; jede andere Beschränkung der Preßfreiheit nur im Wege der Gesetzgebung.“

Artikel 29:

„Alle Preußen sind berechtigt, sich ohne vorgängige obrigkeitliche Erlaubniß friedlich und ohne Waffen in geschlossenen Räumen zu versammeln.

 Diese Bestimmung bezieht sich nicht auf Versammlungen unter freiem Himmel, welche auch in Bezug auf vorgängige obrigkeitliche Erlaubniß der Verfügung des Gesetzes unterworfen sind.

Artikel 30:

„Alle Preußen haben das Recht, sich zu solchen Zwecken, welche den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, in Gesellschaften zu vereinigen.

Das Gesetz regelt, insbesondere zur Aufrechthaltung der öffentlichen Sicherheit, die Ausübung des in diesem und in dem vorstehenden Artikel 29 gewährleisteten Rechts.

Politische Vereine können Beschränkungen und vorübergehenden Verboten im Wege der Gesetzgebung unterworfen werden.“

Das »Sozialistengesetz« hat in starkem Aumaß in Grundrechte eingegriffen. Aber die Verfasungen der deutschen Einzelstaaten erlaubten Einschränkungen von Grundrechten im Rahmen von Gesetzen.

Ein dauerhaftes Verbot einer politischen Vereinigung wäre allerdings anfechtbar gewesen (so ermöglichte z. B. die preußische Verfassung, Artikel 30, nur vorübergehende Verbote).

Das »Sozialistengesetz« galt zunächst nur befristet bis zum 31. März 1881, wurde mehrfach verlängert und 1890 nicht mehr.

Auch wenn formal mit dem »Sozialistengesetz« nicht gegen die Verfassung verstoßen wurde, stand es in Gegensatz zu Grundsätzen eines freiheitlichen Rechtsstaates.

Es war ein Ausnahmegesetz gegen eine bestimmte politische Richtung.

Der Deutungsspielraum für Bestrebungen, die den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezweckten, war groß, schon die Absicht einer deutlichen Veränderung konnte als strafbar eingeordnet werden und es war für Erlaubtheit und Nichterlaubtheit nicht ausschlaggebend, auf welche Weise Ziel verfolgt wurden.

Beim Vorgehen in der Sache konnten die Polizeibehörden ohne richterliche Kontrolle entscheiden.

Bedenklich kann erscheinen, ob Rechtsgleichheit (Geichheit vor dem Gesetz) verletzt wurde, indem Grundrechte für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe außer Kraft gesetzt wurden (preußische Verfassung, Artikel 4: „Alle Preußen sind vor dem Gesetz gleich.“). Formal kann allerdings das Gesetz mit dem Argument verteidigt werden, es seien nur Pesonen mit Umsturzabsichten betroffen.

Einwände gab es außer von den Sozialdemokraten, Regionalparteien und Vertretern nationaler Minderheiten (Deutsch-Hannoversche Partei [DHP], Elsaß-Lothringer, Polen, Dänen) auch von einem erheblichen Teil der Liberalen (vor allem wegen eines Ausnahmegesetzes statt Anwendung ordentlicher Gesetze) und von der Deutschen Zentrumspartei (kurz: Zentrum; Vertretung des politischen Katholizismus).

Ludwig Windthorst (Zentrum) sagte in der 55. Sitzung des Reichstags am 24. Mai 1878 unter anderem (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages. 3. Legislaturperiode. II. Session 1887. Erster Band. S, 1530 und S. 1531):

„Meine Herren, es ist hiernach die Frage. Mit welchen Mitteln will diese Vorlage die Sozialdemokratie bekämpfen? Und da antworte ich: mit den nackten Mitteln der polizeilichen Präventivmaßregeln o h n e  j e g l i c h e  r i c h t e r l i c h e

K o n t r o l l e .“

„Endlich, meine Herren, handelt es sich hier um ein reines Ausnahmegesetz gegen eine bestimmte Klasse von Staatsbürgern, und wenn zwar Ausnahmegesetze nicht etwas ganz neues sind im deutschen Reich und in Preußen, so muß ich doch sagen, daß dieses ein recht kriantes sein würde, obwohl andere kaum minder kriant waren.“

Georg Arbogast von und zu Franckenstein verlas in der 8. Sitzung des Reichstags am 9. Oktober 1878 eine Erklärung der Mitglieder und Hospitanten der Zentrumsfraktion (Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages. 4. Legislaturperiode. I. Session 1887. Erster Band. Von der Eröffnungssitzung am 9. September bis zur 17. Sitzung am 19. Oktober 1878. S. 112). Diese enthielt unter anderem die Aussagen:

„Wir erachten es jedoch weder für gerecht, noch für nothwendig und heilsam, dieser Agitation durch ein polizeiliches Ausnahmegesetz, nach Art des von den verbündeten Regierungen vorgelegten, entgegenzutreten.

Dasselbe bedroht mit den verwerflichen zugleich auch berechtigte Bestrebungen. Es gefährdet in hohem Maße die Gemeindefreiheit und stellt die Rechtssicherheit der Staatsbürger in Frage, indem es in weitem Umfang das polizeiliche Ermessen an Stelle des richterlichen Urteils setzt."

jan456928 
Fragesteller
 06.11.2021, 07:23

Vielen Dank! Das hilft wirklich weiter. Danke 🙂🙂

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Ja, es war verfassungskonform, da Bismarcks Gesetzentwurf sowohl vom Bundesrat als auch vom Reichstag verabschiedet worden war. Es verstieß gegen keinen Artikel der Reichsverfassung. Denn diese hatte keinen Grundrechtekatalog.

MfG

Arnold

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung