Theologische Bedeutung vom Blinden Bartimäus?

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Liebe Naokoo!

Deine Frage nach dem blinden Bartimaios (Mk 10,46‒52) kommt unvermittelt. Ich habe sie nicht erwartet. Seltsamerweise habe ich in all den Jahren, in denen ich mittlerweile in Foren schreibe, nie jemanden erlebt, der sich für diesen einsamen, verachteten und an den Rand der Gesellschaft verstoßenen Bettler interessiert hätte ‒ zumindest nicht so sehr, dass er auch wirklich die Frage danach gestellt hätte, so wie Du es jetzt getan hast. Umso lieber will ich also versuchen, ein paar Gedanken dazu in die Maschine zu klopfen, die vielleicht ein Stück weit verständlich zu machen möchten, wovon in dieser berührenden Geschichte eigentlich die Rede geht ‒ und was alles in ihr verborgen ist und ans Licht gezogen zu werden verdient. ‒

Lass mich vielleicht mit einem Bild beginnen, mit einer Metapher: Manche Wüstenblumen verhalten sich so, wie es hier von Bartimaios erzählt wird: Jahrelang vegetieren sie in einer gnadenlosen Dürre und Trockenheit dahin, als wenn schon kein Leben mehr in ihnen wäre und als ob sie ihre ganze Anstrengung nur darauf gerichtet hätten, sich durch äußere Versteinerung der unerträglichen Härte der Umgebung anzupassen. Kaum aber fällt Regen auf den ausgedörrten Boden, da schießen sie auf, treiben Blüten und zeigen auf nahezu erschütternde Weise, dass sie niemals gänzlich vergessen haben, was es heißt zu leben. Wer es auch nur ein einziges Mal erlebt hat, der wird niemals mehr vergessen können, wie sich ihm das Herz öffnete bei diesem überwältigenden Anblick ‒ gerade so, wie sich die Blütenkelche dieser Blumen der Wüste öffneten, als sie auch nur die ersten Regentropfen aufsaugen konnten.

Und ich glaube: Einen solchen Augenblick des Aufblühens erlebte auch der blinde Bartimaios. Als er erfährt, dass Jesus vorübergeht, sprengt er mit einem Mal die Fesseln der Angst und der Gewohnheit und ruft um Hilfe. Er, der Bettler Bartimaios, wagt zu tun, was er bis dahin nicht für möglich halten konnte: Er, der ein Leben lang im sozialen Abseits dahinvegetiert hatte, bestenfalls geduldet von all denen, die da »normal« hießen, meldet sich mit seinem Anliegen zu Wort und tritt unter den Augen aller in die Öffentlichkeit; er, den alle nur als hilflos sehen konnten und wollten, ringt jetzt um die Gabe der Selbständigkeit und um die Zurückgabe der eigenen Augen; er, der niemals seinen eigenen Augen trauen durfte, nimmt sich jetzt das Recht heraus, sich selbst zu Wort zu melden. Es ist anscheinend das erste Mal in seinem Leben, dass er den Glauben, das Vertrauen aufbringt, es wäre vielleicht auch für ihn noch ein anderes Dasein möglich, und diese Zuversicht verleiht ihm die Kraft, das Spalier der fremden Vorwürfe und Weisungen zu durchbrechen. Zum ersten Mal riskiert er es, sich dem Einspruch und der Behinderung durch die anderen wirklich auszusetzen; erstmals in seinem Leben protestiert er gegen den Zwang zum Stillhalten in der Aussichtslosigkeit purer Resignation ‒ in dieser Stunde rebelliert er gegen den mitleidigen Terror blinder Unmündigkeit.

Dass er die Kraft zu diesem Hilferuf besitzt, ist in sich selbst schon mehr als wunderbar. So lange Zeit hat Bartimaios sich zu den Menschen gegenüber gefügt und seinen Mund gehalten; jetzt aber, wo der Mann aus den Mauern Jerichos kommt, den viele für den Messias halten, da wagt er immer wieder laut zu rufen: »Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner!« Immer wieder gebraucht er diese Anrede: »Sohn Davids«, »Messias« also, »König Gottes«. Alle anderen meinen, er habe diesem Hochgeehrten, Hochgepriesenen gegenüber noch weniger ein Recht, sich zu melden als den gewöhnlichen Bewohnern Jerichos gegenüber; Bartimaios aber denkt gerade umgekehrt: Alle anderen haben ihn sein ganzes Leben lang daran gehindert, selber zu leben, und hindern ihn noch; dieser eine, der Messias aber, wird vielleicht gerade darin seine Größe zeigen, dass er ihn, den Bettler, nicht wie alle anderen erniedrigt. Wenn schon alle anderen nicht, so wird vielleicht doch dieser ihm den Weg eröffnen und ihn unter die Augen treten lassen – und ihm mit seinem Ansehen auch sein Gesicht zurückgeben.

Und dies ist der zweite, eigentliche Teil des Wunderbaren: dass Jesus wirklich den Hilferuf aus der Menge nicht überhört. Sonst wohl pflegen die Großen der Welt ihre Triumphzüge zu markanten Punkten absichtsvoll zu unterbrechen: Jeder soll sehen, wie sehr ihnen das Wohl ihrer Untertanen am Herzen liegt. Bei einem Bettler aber legt kein Großer Ehre ein. Ein Bettler ist immer lästig. Ein solcher verwirrt stets nur den Wohlklang des Beifalls. Er stört das Protokoll. Aber Jesus bleibt stehen und überhört das Rufen dieses Bettlers nicht. Für ihn ist dieser eine Ruf um Hilfe wichtiger als tausend Hosianna-Rufe.

Und es kommt noch eigenartiger. – Man kennt Berichte aus dem Altertum, dass beim Vorübergang des römischen Kaisers Blinde sehend wurden, und die Erzählungen darüber werten derlei Vorkommnisse natürlich als Beweis für die göttliche Macht des Cäsars. Ganz anders hier. Jesus vermeidet es nahezu peinlich streng, seine eigene Größe in dieser Heilung zu demonstrieren. Es geht ihm nur um die Größe des Bettlers Bartimaios. Man sollte meinen, nichts wäre offensichtlicher und augenfälliger, als dass der Blinde von Jesus geheilt werden will und dass er deshalb um Hilfe ruft. Trotzdem scheint Jesus gerade hier von einer atemberaubenden Langsamkeit des Verstehens zu sein. Er hat verfügt, dass man den Blinden zu ihm führe, und die Leute haben deswegen auf der Stelle ihre Meinung geändert: Nunmehr befehlen sie Bartimaios geradezu, dass er Jesus gegenübertritt; er brauche keine Angst zu haben, sagen sie; Jesus rufe ihn, erklären sie. Und tatsächlich steht Bartimaios auf. Aber eigentlich »selbständig« ist er damit noch nicht; was er tut, geschieht nach wie vor im Bannkreis fremder Vorschrift und Duldung; und bliebe es dabei, würde der »Aufstand« des Bartimaios sofort wieder erstickt sein – nie fände er als nur Gehorsamer sein Augenlicht zurück. Offenbar deshalb kommt es Jesus so sehr darauf an, dass der Blinde selbst von sich her ausspricht, was er möchte; eben deshalb stellt er die seltsam schwerfällige, scheinbar alles nur verzögernde Frage: »Was willst du, dass ich dir tun soll?« Alles scheint für Jesus in diesem Augenblick daran zu hängen, dass Bartimaios selber formuliert, was er am meisten wünscht, dass er sich öffentlich zu seinem Anliegen bekennt und dass er somit endgültig die Angst überwindet, er könnte zu viel verlangen, er würde doch nur lästig werden, er müsste sicherlich als zudringlich betrachtet werden.

Kein Psychotherapeut der Welt vermag eine Heilung gegen den Willen seines Patienten zu vollbringen. Im Gegenteil. Die Heilung besteht eigentlich immer nur darin, dass der Kranke lernt, wieder einen eigenen Willen zu bekommen; sie gelingt, wenn er das Vertrauen aufbringt, den eigenen Wunsch gegen den Widerstand seiner Angst zu äußern; sie ist abgeschlossen, wenn er sich buchstäblich wieder zu seinen eigenen Augen, zu seiner Einsichtsfähigkeit entschließt. An einer Stelle wieder dieser Wundererzählung des Markusevangeliums ist die unmittelbare Einheit zwischen Gottvertrauten und Selbstvertrauen, zwischen Religion und Psychotherapie mit Händen zu greifen. Jesus selber tut beim Vorgang dieser Heilung scheinbar gar nichts. Er ist sozusagen nur der Mittler auf dem Weg, der den blinden Bartimaios vor Gott sich selber zurückführt. Die einzige Handlung Jesu besteht darin, den Blinden nach seinem Willen zu fragen. So weit zieht Jesus sich zurück, so sehr vermeidet er absichtlich jede eigene Handlung, dass es ganz und gar nur auf den Willen des Bartimaios selbst ankommt. Alle anderen bisher mögen gemeint haben, sie sähen schon, was dem blinden Bettler fehle. Aber wenn es um die Heilung der Krankheit und nicht nur im die Linderung der Symptome gehen soll, darf offenbar von außen her gar nichts »gemacht« werden, erzählt diese Geschichte. Wenn Bartimaios selber lernen soll, darf es nur darum gehen, was er aus sich selber will. Auf ihn allein kommt es jetzt an; er selbst muss sagen, was er will. Erst das Vertrauen, dass dies möglich ist, gibt ihm das Augenlicht zurück. Wie um gerade dies am Ende noch besonders zu unterstreichen, fügt Jesus sogar eigens hinzu: »Dein Glaube hat dich geheilt.« Nichts Äußerliches also, auch nicht die Person Jesu – er selbst, er, Bartimaios, mit seinem Vertrauen ist das Wichtige. Selbst Jesus ist an dieser Stelle nur der Anlass, nicht der Grund der Heilung. Der blinde Bartimaios aber, sich selbst zurückgegeben, sieht bei den Worten Jesu die ganze Welt mit eigenen Augen wieder.

Das Markusevangelium hebt noch hervor, er sei fortan Jesus auf seinem Wege nachgefolgt. Es ist, so wird man dies verstehen dürfen, für Bartimaios nunmehr eine Bindung möglich, die gerade nicht mehr eine neue Form sklavischer Abhängigkeit bedeutet. Nachfolgen ist nicht Mitlaufen, und erst jetzt, wo er selbst sehen kann, wird Bartimaios fähig, in Jesu Fußstapfen zu gehen… ‒

An dieser Stelle könnte der Versuch, die Geschichte des blinden Bartimaios eigentlich recht gut bereits zu Ende sein, denke ich. Das aber hieße eine Merkwürdigkeit dieser Geschichte zu unterschlagen, die diese Geschichte von wirklich allen anderen Heilungsgeschichten unterscheidet, und so will ich am Ende vielleicht doch ganz gerne noch darauf hinweisen: In all den zahlreihen Wunderberichten des Neuen Testamentes werden Menschen vorgestellt, deren Namen wir nicht kennen; nur Bartimaios wird namentlich erwähnt, als einziger. Gewisse Theologen haben gemeint, das liege daran, dass Bartimaios ein bekanntes Mitglied des Jüngerkreises in der Umgebung des Markusevangeliums gewesen sei und dass die Erzählung von seiner Heilung so etwas wie eine frühe Heiligenlegende darstelle. Vielleicht ist das so; näher aber liegt etwas anderes. Denn wie, wenn es nach dem Gesagten darauf ankäme, den Namen des Bartimaios zu nennen? Wie, wenn wirklich alles davon abhinge, dass der unansehnliche Blinde von Jericho in alle Ewigkeit einen Namen besitzt? Bartimaios = »Sohn des Timaios« ist ja eigentlich kein Eigenname, so wenig wie die Frau des Jakobssohnes Juda im Alten Testament, die man nur »Schuas Tochter« nannte (Gen 38,2.12), einen eigenen Namen besaß. Es ist eine Art, so angeredet zu werden, als sei man nur ein folgsamer Annex der Eltern, gar kein eigenes Wesen; und dieser Eindruck fügt sich gut in das Gesamtbild der Erkrankung des blinden Bartimaios. Wie aber, wenn es nun zu der Heilung des Mannes gehören würde, wenigstens mit diesem Namen »Sohn des Timaios« Anspruch und Geltung zu besitzen? – Des Namens Bartimaios wird man gedenken, solange dieses Evangelium besteht. Aber dass er geheilt wurde, war wohl nur möglich in dem sicheren Gefühl: »Ich habe einen Namen, der vor Gott niemals vergessen wird. Ich, Bartimaios, auch ich bin ein Mensch vor Gott.«

Noch einmal lässt sich daher an dieser Stelle lernen, was es denn im Sinne Jesu bedeutet, ein »königlicher« Mensch zu sein und »in Macht« dem »Reiche Gottes« anzugehören. Aber was ist »Königtum« in den Augen Gottes? Nichts anderes, als die Augen eines anderen Menschen zu öffnen, indem man ihm den Mut gibt, wieder selbst zu sehen. Wer es vermag, auf das Leben eines anderen Menschen keinen Schatten zu werfen, wer sich soweit zurücknimmt, dass er die »Aussichten« des anderen nicht verstellt, wer so durchscheinend wird, dass das Licht des Himmels ihn durchleuchtet wie das Fenster einer Kathedrale, der ist im Sinne Jesu am meisten ein königlicher Mensch vor Gott. Es geht niemals um Macht und Titel, nicht einmal um den Titel eines »Christen«. Es geht allein um diese Einsicht: Vor Gott zählt einzig eine Art der Menschlichkeit, die Blinde sehen, Lahme gehen, Tote auferstehen lässt (Jes 35,5.6; 61,1). ‒

Lass mich vielleicht noch einen letzten Gedanken äußern. Ich hatte am Anfang geschrieben, dass sich, solange ich in Forme schreibe, noch nie jemand für diesen Bettler interessiert und nach ihm gefragt hat. Und was ich sagen wollte, ist dieses: Du selbst hast mit Deiner Frage nach ihm und seinem Leiden genau das getan, was Jesus getan hat: Du hast ihm Deinen Aufmerksamkeit geschenkt, hast Dein Sinnen, Deine Gedanken, Deine Blicke auf ihn gerichtet. Ich weiß nicht, was Dich dazu bewogen hat, nach ihm zu fragen, weiß nicht, was die Vorgeschichte Deiner Frage war. Fest aber steht: Du hast dazu beigetragen, dass da ein Mensch in seiner Not und in seinem Elend nicht übersehen wird. Diesen Blick für die Kleinen, Beiseitegeschobenen ein Leben lang beizubehalten und sich ihnen zuzuwenden und sich für sie einzusetzen, gerade das wird wohl heißen dürfen: leben und gehen an der Seite Jesu.

Achim

Woher ich das weiß:Studium / Ausbildung – Theologiestudium
BillyShears  20.12.2023, 11:47
Seltsamerweise habe ich in all den Jahren, in denen ich mittlerweile in Foren schreibe, nie jemanden erlebt, der sich für diesen einsamen, verachteten und an den Rand der Gesellschaft verstoßenen Bettler interessiert hätte ‒

Echt? Mein Eindruck ist da ein anderer. Gerade die Bultmannschule interessiert sich sehr für ihn.

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Wotquenne  20.12.2023, 20:46
@BillyShears

Da kannst Du natürlich gut recht haben, keine Frage. Ich habe mich dabei auf die zur Sprache gekommenen Perikopen "nur" in den allgemeinen, sehr breit aufgestellten Foren wie dieses hier bezogen (die keine Foren mit explizit fachtheologischer Ausrichtung sind).

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