Selbstentfremdung des Menschen - was ist damit gemeint?

4 Antworten

Selbstentfremdung ist eine Entfremdung von sich selbst. Eine Auflösung/eine Zerstörung/ein Verlust einer (ursprünglichen/natürlichen) Beziehung, in der Einheit und Zugehörigkeit vorhanden sind, geschieht. Ein Einklang ist nicht mehr gegeben.

Entfremdung ist a) Fremdmachen, b) Fremdwerden und c) das Ergebnis dieses Geschehens (Fremdmachen bzw. Fremdwerden) als Zustand.

Fremdmachen bzw. Fremdwerden heißt, aus der Verbindung/dem Zusammenhang/dem Bezugsrahmen der Nähe, des Eigenen, Heimischen, Gemeinschaftlichen, Vertrauten oder Gewohnten herausgenommen und einem anderwärtigen und anders ausgerichtetem Zusammenhang zugeordnet zu werden. Entfremdung bedeutet so Trennung, Entfernung, Verschwinden aus oder Entgegensetzung zu heimischer Umwelt, Existenz, Gemeinschaft, Religion oder eigenem Selbst.

Entfremdung kann auf vielfältige Weise geschehen. Sie kann in unterschiedlicher Intensität auftreten, z. B. als einer gewissen Distanz als eine starke innere Zerrissenheit. Ein Zustand, bei dem eine Person nicht weiß, wo sie in der Welt steht, welche Aufgabe sie erfüllt und worin der Sinn besteht (geistige Orientierungslosigkeit, Sinnverlust, Vorstellung von Sinnlosigkeit) ist eine Möglichkeit von Entfremdung, allerdings nicht zwingend bei Entfremdung immer der Fall.

Der Begriff hat eine Grundbedeutung, aber was jeweils im Einzelnen genau enthalten ist, kann erst in einem Zusammenhang nachvollzogen werden.

Der Ausdruck Entfremdung kann in theologischen Äußerungen abwertend für den Abfall von Gott stehen oder bejahend für die Abkehr von irdischen Dingen.

Bei Jean-Jacques Rousseau geht es – in einer ursprünglichen rechtlich-wirtschaftlichen Bedeutung von Entfremdung als Veräußerung/Entäußerung - um eine Entäußerung der natürlichen Freiheit eines Individuums an die Gemeinschaft. Ohne die Bedeutung fester Begrifflichkeit wird auch die Entfremdung von sich selbst (Selbstferne) einmal angesprochen. Ein Mensch findet Identität nur im Spiegel der Meinung eines anderen.

Wilhelm von Humboldt setzt beim freien Subjekt an, das in einem Konflikt gerät, durch den Anspruch seines inneren Wesens, sich zu einer Person zu entfalten, und die Neigung, zu denen dafür als Material benötigten Dingen der Welt überzugehen, mit der Gefahr, sich in ihnen zu verlieren.

Bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist Entfremdung ein dialektisches Moment des Subjektverlustes im geistigen Selbsterfahrungsvorgang. Zustände der Entfremdung sind die Verlorenheit an die Gegenständlichkeit als ‹Bewußtsein›, die Abhängigkeit von Gegenständlichkeit als ‹Begierde›, die Unterwerfung des einen Selbstbewußtseins im ursprünglich auf gegenseitige Ergänzung angelegten Anerkennungsvorgang unter das andere Selbstbewußtsein (Verhältnis Herr und Knecht). Im Voranschreiten wird auf höhere Stufe die Entfremdung aufgehoben.

Bei Karl Marx produziert sich der Gegensatz in der konkreten Welt des vergesellschafteten Menschen. Entfremdung ist in frühen Schriften 1843 – 1846 ein zentraler Begriff. Auch politische und religiöse Entfremdung werden erörtert, als Selbstentfremdung wird aber insbesondere die wirtschaftliche (ökonomische) Entfremdung untersucht. Arbeit hat eine Schlüsselrolle bei der Verwirklichung des Menschen. Privateigentum in der Hand einer Klasse und fortschreitenden Arbeitsteilung im Kapitalismus führen zusammen in mehrfacher Hinsicht zu Entfremdung:

1) Entfremdung des Menschen vom Produkt seiner Arbeit: Es gehört einem anderen und andere werden durch es reich.

2) Entfremdung der Menschen von der Arbeitstätigkeit: Die Arbeitskraft bekommt Warencharakter, die Arbeitstätigkeit wird äußerlich als Mittel, um Lohn zu erhalten. Sie befriedigt nicht Bedürfnisse des Arbeiters.

3) Entfremdung des Menschen vom Mitmenschen: Die Beziehungen unterliegen in starkem Ausmaß einer Verwertung als Mittel.

4) Entfremdung des Menschen von eigenem menschlichen Wesen: Freie, bewußte, schöpferische Entfaltung ist stark eingeschränkt.

Albrecht  13.03.2013, 03:53

Jörg Hardy, Entfremdung. In: Metzler Lexikon Philosophie : Begriffe und Definitionen. Herausgegeben von Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard. 3., erweiterte und aktualisierte Auflage. Stuttgart ; Weimar: Metzler, 2008, S. 137 – 138
Entfremdung, zentraler Begriff der ↗ Marx’schen Theorie, dessen Wurzeln sich allerdings bis in die ma. Theologie zurückverfolgen lassen. Bei Hegel ist die E. der absoluten Idee in Gestalt ihrer ↗ Entäußerung in Vergegenständlichung in Natur und Geschichte notwendiges Durchgangsstadium auf den Weg der Selbstverwirklciung des Geistes. Feuerbachs statische Geschichtsauffassung legte den Schwerpunkt der Argumentation auf die religiöse E. Marx […] setzt an die Stelle der Arbeit des Geistes als dem bewegenden Moment der Geschichte die gesellschaftliche ↗ Arbeit und überträgt das dynamische Prinzip der Hegel’schen Dialektik von E. und Aufhebung der E. auf diese, so dass seine materialistische Geschichtsphilosophie drei systematische Entwicklungsstufen der menschlichen Gattung voneinander unterscheiden kann.

Auf dem Fundament völlig unterschiedlicher gesellschaftlicher ↗ Poduktivkräfte in der Frühzeit der menschlichen Geschichte setzt naturwüchsig der Prozess der E. der Arbeit ein, wird aber erst mit der permanenten Revolutionierung der Produktivkräfte im Kapitalismus zu einem gesellschaftlichem Problem ersten Ranges. Die E. der Arbeit spitzt sich dramatisch zu (die immer weiter voranschreitende Teilung der Arbeit führt dazu, dass »alle eigene Tat des Menschen schon zu einer fremden, gegenüberstellenden wird, die ihn unterjocht, statt das er sie beherrscht [MEW 3, 5. 33] und erleichtert die Aufhebung der E. und den revolutionären Akt des Proletariats.“

ma. = mittelalterliche
E. = Entfremdung
MEW = Marx-Engels-Werke

noch ausführlichere Darstellungen enthalten:

Siegfried Blasche, Entfremdung. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß. Band 2: C – F. 2., neubearbeitete und wesentlich ergänzte Auflage. Stuttgart ; Weimar : Metzler, 2005, S. 330 -332

Eberhard Ritz, Entfremdung. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2: D – F. Basel ; Stuttgart : Schwabe, 1972, Spalte 509 - 525

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Die Grundfrage ist: Wie kommen wir zu unserem Selbst und nach einem neueren Buchtitel, wieviele sind wir dann in unserem Innern? Wie weit spielt bei diesem Prozess Geschichtlichkeit und natürliche Vorgabe eine sehr differenzierende Rolle und können wir es je schaffen, auch nur zu ahnen, was man selbst sein könnte?

Das ganze Thema der marxchen Selbstentfremdung ist ohne die idealistisch geprägte Philosophie seit Hegel bis hin zum jungen Feuerbach nicht zu verstehen. Marx stellte zwar, wie es so schön heißt, den Hegel vom Kopf auf die Füße, doch hat er sich von einem idealistischen Menschenbild nicht ganz lösen können. Da half ihm auch nicht, dass er seine Doktorarbeit über Epikur geschrieben hat, doch in diesem Punkt hat er ihn nicht verstanden.

Dabei ist ein Kern der epikureischen Philosophie, dass im ganzen niemand ein erfüllendes Leben führen kann, der es nicht schafft, sich möglichst seine Autarkie zu bewahren. Zwei durchaus lebensnützliche Regungen des Menschen, Angst und sich Wohlfühlen, können aber auch Einfallstore für Fremdbestimmung sein. Angst, wenn sie ohne nachvollziehbaren Grund von außen aufgesetzt geschürt wird, z.B. vor strafenden Göttern, vor einer ewigen Abrechnung im Tod, und in Wirklichkeit nur instrumentalisiert wird, damit bestimmte Leute sich Macht und Einfluss verschaffen, diese Angst ist nicht unsere eigene und abzulehnen.

Aber auch die Versuchung des "seichten Lebens", des angenehmen Mitschwimmens im Mainstream, vor allem wenn beides mit dem Verkauf eigener Rechte einhergeht und man der Bequemlichkeit wegen immer mehr zulässt, dass man nicht mehr selbst lebt sondern "gelebt wird", das ist Entfremdung nach Epikur. Bei Epikur HAT das Individuum kein Recht auf seine Persönlichkeit, es muss darum kämpfen (da kommt der Heraklit durch) und zwar immer wieder neu. Die Entfremder sind keine Abstrakta wie "DER KAPITALISMUS", sondern immer nur einzelne andere Menschen, die sich über mich setzen wollen. Die Masken, hinter denen die Dominanzabsichten versteckt werden, können sehr verschieden sein: der angebliche Zwang der Wirtschaft, das Gebot der Gleichheit, der heile Stillstand der Natur - sie kleiden sich immer moralisch fordernd positiv und stülpen Dir damit über, was nicht Du sondern sie für das Richtige halten. Hier gilt der Satz Kants aus seiner Aufklärungsschrift: Wage es, selbst zu denken! Medien, die Dich nur mit negativen Sensationen füttern wollen, können nie recht haben, denn die Welt ist nicht NUR schlecht. Sie zeigen uns nur die schlechte Seite.

Der Kampf gegen Selbstentfremdung beginnt mit der Abwehr aller Versuche, mich zu instrumentalisieren. Wenn sachliche Information zu drängender Mission entartet. Wenn Tabus und Dogmen vorgeschoben werden, die man nicht hinterfragen darf. Denn das Selbst ist nichts Fertiges. Es bildet sich in der Reibung mit der Welt und den anderen Menschen. In dieser Vielfalt ist es nicht planbar. Darum versuchen es die "DICH-VERPLANER" immer mit Reduktionismus, von der Vielfalt der Welt zur einfach-gestrickten Idealvorstellung, die natürlich genau so ausfällt, dass sie zufällig sein Präsident sind.

Ich würde sagen, damit ist wohl auch gemeint, dass man nicht mehr weiß, was man selbst wirklich fühlt, denkt und wünscht, weil die Manipulation von Außen sehr stark ist.

Ich denke im großen und ganzen all diese Dinge.

Das man sich selbst nicht mehr wiederfindet in der Welt und sich selbst kaum noch erkennen.