Schlechtes Auslandsjahr?

2 Antworten

Von Experte stufix2000 bestätigt
die beste Zeit seines Lebens

Ok, ich gebe es zu: Ich habe diese oder eine ähnliche Floskel bestimmt auch mal über mein Austauschjahr gesagt. Und wenn man drüber nachdenkt, ist es natürlich Bullshit. Erstens kann man erst auf dem Sterbebett sicher sagen, ob irgendwann danach nicht doch ein noch besseres Jahr kam. Frisch zurückgekehrte Austauschschüler, die statistisch gerade einmal ein Drittel ihrer Lebenszeit erlebt haben, können sich maximal festlegen, dass das Austauschjahr das beste Jahr ihres bisherigen Lebens war. Und zweitens, viele meiner Erfahrungen im Austauschjahr haben mein Leben zwar stark beeinflusst, das haben viele andere Erfahrungen vor und nach dem Austauschjahr aber auch. War die Erfahrung, im Ausland zu leben wirklich besser und krasser als die Erfahrung, Laufen oder Schwimmen oder Fahrradfahren zu lernen, oder könnte es zufälligerweise sein, dass diese Erfahrungen einfach nur schon so lange zurückliegen, dass sie für mich längst selbstverständlich geworden waren, als ich das Austauschjahr gemacht hatte? Nach meinem Austauschjahr war ich noch oft und für sehr viel längere Zeit im Ausland, damit ist „Ausland“ zum Normalzustand für mich geworden und damit hat wiederum das Austauschjahr an „Krassheit“ verloren… Wenn ich also vielleicht hin und wieder die Floskel „bestes Jahr deines Lebens“ benutze, dann um einen jungen Menschen dazu zu ermutigen, es auszuprobieren. Immerhin kann es ja zumindest auch ein sehr sehr sehr gutes Jahr werden - dass es das tatsächlich wird, kann ich aber natürlich nicht versprechen.

Ob ein Austauschjahr „gut“ im Sinne von „krass“ wird, hängt von vielen Faktoren ab, die man kaum oder gar nicht beeinflussen kann. Da wäre zum Beispiel die Platzierung. Ein Jahr in einer sehr aktiven Gastfamilie, die einen Wochenende für Wochenende hierhin und dorthin mitnimmt, erlebt man natürlich intensiver als in einer Gastfamilie, die gerne zu Hause bleibt. In einem riesigen Land wie den USA macht man an der Westküste anderer Erfahrungen als an der Ostküste, erlebt in Louisiana anderes als in Wisconsin, lebt in einer Stadt wie Washington ein anderes Leben als in einer texanischen Hinterdorf-Neighborhood…. Und: In einer Gastfamilie, mit der die Chemie so richtig Bombe stimmt, bekommt ein Austauschjahr einen anderen emotionalen Wert als in einer Familie, die man „ganz nett“ findet, mehr aber eben auch nicht.

Was ich persönlich außerdem denke: manche Austauschschüler haben schlicht das falsche Land gewählt. In meinem Austauschland ist es halt bekannterweise das „Oh ich finde Anime sooo cool, bestimmt ist Japan das richtige Land für mich!“, und bei den USA ist es halt grundsätzlich, dass man überall und ständig irgendetwas aus den USA hört und sieht, die gesamte Unterhaltungsindustrie ist ja quasi nur aus den USA, und da denken halt dann viele, dass die USA das richtige Land für sie ist. Musik und Film oder halt Anime können ein guter Einstiegspunkt sein, um sich für ein Land zu interessieren, aber das Land ist auf jeden Fall mehr als das, was uns die Unterhaltungsmedien vermitteln. Im Guten wie im Schlechten. Übrigens: Es gibt Menschen, die die besten Erfahrungen in Deutschland machen. Die Gesellschaft suggeriert uns häufig, dass ein Auslandsaufenthalt auf jeden Fall das höchste Ziel ist, das muss es aber nicht für jeden sein.

Und nicht zuletzt kommt es auch immer darauf an, was für ein Leben man vor dem Austauschjahr geführt hat. Ich zum Beispiel komme aus der untersten Mittelschicht, und vor meinem Austauschjahr war eine Klassenfahrt in den Harz das krasseste Happening. Mein Austauschjahr hatte es deshalb sehr, sehr leicht, das „beste Jahr meines Lebens“ (hust, hust, zwinker, zwinker) zu werden, weil schon alleine der Hinflug alles bisher Gekannte in den Schatten stellte. Wenn man aber beispielsweise aus einer Familie kommt, für die auch lange Auslandsreisen in aller Herren Länder sowieso Normalität sind, dann kann einen ein Austauschjahr eben auch nicht so schnell beeindrucken.

Denkst du, dass irgendeiner der drei oben genannten Gründe bei dir eine Rolle gespielt haben könnte? Ich würde dir grundsätzlich empfehlen, falls du grundsätzlich immer noch Lust auf Ausland hast, es später einfach noch einmal zu versuchen, in einem anderen Rahmen (Work&Travel zum Beispiel) und vielleicht auch in einem anderen Land. Das kann dann eine sehr andersartige Erfahrung werden. Und falls dein Leben im Heimatland einfach schon aufregend und erfüllend genug ist, sodass du keinen Auslandsaufenthalt brauchst, um es besser zu machen: sei dafür dankbar, genieße es, und lass dir nicht von außen einreden, dass du unbedingt ins Ausland musst.

Woher ich das weiß:eigene Erfahrung – Ich war ein Jahr als Schülerin in Japan

Ich selbst habe nie ein solches Auslandsjahr gemacht, weiß aber von ehemaligen Klassenkameraden sowie von jetzigen Studenten, dass die Erfahrung sehr "gemischt" ausfielen (um es mal vorsichtig zu sagen).

Nicht selten wird berichtet, dass "Erstfamilien" nach kurzer Zeit gewechselt werden mussten wegen mangelnder "Passform" - einmal sogar auch aus finanziellen Gründen.